Die Nähe schenkt das Leben
Die Nähe schenkt das Leben - Predigt zum 23. Sonntag im Jahreskreis – B – Jes 35,4-7a; Jak 2,1-5 u. Mk 7,31-37
Eine Photographie, die mich anspricht: Auf dem Bild ist ein kleiner Junge zu sehen. Er hat so etwas wie einen Kopfhörer aufgesetzt. Neben ihm sitzt eine Frau, die bei einem Gerät irgendwelche Tasten bedient. Den entscheidenden Eindruck aber vermittelt das Gesicht des Jungen. Die Augen sind geschlossen, der Mund staunend geöffnet. Überraschung kennzeichnet den Ausdruck des Gesichtes. Die Bildunterschrift lautete: Taubstummes Kind hört zum ersten Mal in seinem Leben etwas.
Die Technik hilft diesem tauben und darum stummen Jungen etwas zu hören; und mühsam wird er lernen, selbst Laute zu artikulieren. Die Verschlossenheit, das unheimliche Schweigen seines Lebens wird aufgebrochen. Der Zugang zur Welt wird geöffnet.
Wir Hörenden können das kaum nachvollziehen. Oder vielleicht doch?
Da begegnen einem Menschen, die anscheinend von nichts berührt werden können. Sie erinnern an jene, die unter der Krankheit des Autismus leiden. Verschlossen in sich selbst, kreisen ihre Gedanken nur um sich. Jede Sensibilität, jede Wahrnehmungsfähigkeit scheint ihnen zu fehlen. Das äußere Geschehen nehmen sie kaum wahr, ganz zu schweigen von den Vorgängen im Inneren der Menschen um sie. Sie sind ausgeschlossen, ausgegrenzt vom Leben der Gemeinschaft.
Sind wir so weit weg vom Taubstummen des Evangeliums?
Es würde auch uns guttun, dass uns da einer wegnimmt von der Menge, von allem, in das wir uns selbst verstrickt haben und nicht mehr herausfinden (vgl. Mk 7,33a). Auch wir haben es notwendig, dass uns einer anrührt, dass einer da ist und eingreift in unseren Zustand; dass er in die Ohren greift und die Zunge berührt. Auch wir brauchen einen, der mit dem Zusammenhang der Welt vertraut ist und weiß, woher Hilfe möglich wird, der, um das Bild des Evangeliums aufzugreifen, eben „zum Himmel aufzuschauen“ weiß und dabei nicht den Kontakt zu uns verliert. So wird im Evangelium das heilende Wort gesprochen: „Effata! – Werde geöffnet!“
Verbissenheit, Betriebsblindheit, Selbstbezogenheit, sie können störend und behindernd sein wie Pfropfen in den Ohren, die nicht nur taub machen, sondern auch stumm. Stummsein heißt, nicht verständlich reden können. Dann ist man ganz draußen…
Und wie oft erleben wir es sogar, dass Menschen, die so verschlossen sind in sich, dennoch in ihrem Handeln außer sich sind. Wer sich nicht äußern kann durch verständliche Worte, die auf der richtigen Wahrnehmung der Um- und Mitwelt beruhen, wer sein Inneres nicht mitteilen kann, - der ist angewiesen auf Handgreiflichkeit. Wie ist sonst auch Mitteilung und Kommunikation möglich? Liegt hier vielleicht ein Schlüssel zum Verständnis der wachsenden Gewaltbereitschaft in unserer Gesellschaft? Ich meine, dass es so ist! Sind deshalb viele gewaltbereit, weil sie sich nicht verstanden fühlen und deshalb auch Angst haben? Werden Kinder deshalb gewalttätig - wir hören ja immer wieder von Gewalt und Mobbing in der Schule -, weil wir Erwachsenen das Hören und Zuhören und das Reden miteinander verlernt haben und so unsere Kinder es auch nicht lernen können? Ach ja, die vielgenannten „sozialen Medien“ mit ihren Plattformen sind meist auch nur Sackgassen echter Kommunikation und führen eher in größere Vereinsamung und in größere Ausgrenzungen.
Der Taubstumme, von dem das Evangelium erzählt, steht für jenes „Unheilsein“ unserer Welt, das durch mangelnde Bereitschaft und Fähigkeit zum Miteinander und zur echten Kommunikation entsteht. „Cor ad cor loquitur“ – „Das Herz spricht zum Herzen“!
Jesus nimmt den Taubstummen weg von der Menge. Er nimmt ihn weg von den Einflüssen, die stören könnten. Dann wendet er sich ihm allein zu.
Jesus berührt den Taubstummen. Er fasst ihn nicht nur an. Er steckt ihm den Finger in die Ohren. Mit Speichel, mit Intimem „aus sich selbst“ berührt er die Zunge. Es ist die neuschaffende Kraft Gottes aus dem Inneren des Göttlichen, die im Handeln Jesu wirkt. Diese intime Berührung durch Jesus und sein Wort der Öffnung zerreißt die Fessel, durchbricht die Mauer der Abgeschlossenheit. Und dann: Wer weiß, wie unendlich mühselig es für Taubstumme ist, wenn sie die Artikulation der Laute erlernen, der begreift, was es heißt, wenn da im Evangelium gesagt wurde: „Sogleich konnte er richtig reden“ (Mk 7,35).
Es ist die Berührung, die Nähe, die absolute Zuwendung, die in Jesus ihre heilende Kraft durch den Glauben wunderbar entfaltet.
Jesu Handeln, das von den Menschen so erstaunt wahrgenommen wird und sich deshalb rasend schnell herumspricht, zeigt hin auf Gottes gutes Handeln am Menschen. Er will, dass unser Miteinander gelingt. Wer sich von Gott berühren lässt, dem werden die Sinne geöffnet zur richtigen Wahrnehmung und Mitteilung. Die Nähe schenkt das Leben.
Lassen wir uns also von Jesus zur Seite nehmen, in die traute Zweisamkeit mit ihm. Lassen wir uns von ihm berühren und öffnen. Er versteht unsere Not, besonders dann, wenn wir uns missverstanden und ausgegrenzt fühlen. Er nimmt das Unheil in uns und das Zerstörerische weg und schenkt uns die Fähigkeit zu hören auch mit dem Herzen, zu verstehen und richtig zu reden.
Seien Sie gesegnet und behütet!
Ihr P. Guido