Predigt zum 22. Sonntag im Jahreskreis (A) Röm 12, 1-2 und Mt 16, 21-27
Es sind völlig unterschiedliche Aspekte, die im Evangelium angesprochen werden (Leidensankündigung, Widerspruch des Petrus, Kreuzesnachfolge). Wenden wir uns dem Wort Jesu vom „Gewinnen und Verlieren“ (Mt 16,25) zu. Eine kleine Geschichte will ich dazu erzählen, die – ich weiß nicht wo – gelesen oder gehört habe. Sie erzählt von einem jungen Mann. Es könnte aber ebenso gut auch eine junge Frau sein, von der die Geschichte handelt.
Nun, ein junger Mann hatte schon viel gehört von der weiten Welt. Alles, was Reisende ihm erzählten, nahm er tief in sich auf. Immer mehr sehnte er sich danach, sie selbst kennenzulernen, sie mit eigenen Augen zu schauen und mit eigenen Füßen zu durchwandern. Und eines Tages machte er sich auf. Doch kaum eine Stunde von zuhause weg, kam er schon an eine Wegkreuzung, die ihn zwang, zwischen drei Möglichkeiten zu wählen. Er ging geradeaus weiter, musste dabei aber links einen Weg und rechts einen Weg liegen lassen. Auch bei der nächsten Gabelung büßte er Möglichkeiten ein, und bei der dritten und vierten ebenso. Jede Wahl, die er traf, und jeder Weg, den er einschlug, führten ihn in eine engere Spur. Größer und größer wurde seine Unzufriedenheit über das unbegangene Land, das er endgültig hinter sich glaubte.
So ging er und wurde älter dabei, hatte tausend Wege verpasst und tausend Möglichkeiten ausgelassen. Schließlich dachte er: „Ich habe immer nur verloren, an Boden, an Wissen, an Träumen. Ich bin mein Leben lang bescheidener geworden. Jeder Schritt hat mich von etwas weggeführt. Wäre ich zuhause geblieben, dann hätte ich mich nie entscheiden müssen, und alle Möglichkeiten lägen noch vor mir.“ Müde geworden setzte er den Weg fort, den er eingeschlagen hatte, es blieb ja nur noch ein kurzes Stück. Abzweigungen gab es keine mehr. So ging er weiter, bis sich jäh ein Abgrund vor ihm auftat. Da merkte er, dass er auf einem Gipfel stand. Der Boden, den er verloren glaubte, lag in weiten Terrassen unter ihm. Er überblickte seine ganze Welt, auch die verpassten Wege mit ihren Zielen. Endlich begriff er: Er war im Wählen und Sich-Bescheiden sein Leben lang aufwärts gegangen.
Sicher finden wir uns in dieser Geschichte wieder. Denn auch wir kannten einmal große Pläne; wir träumten von der Zukunft und erhofften vieles, was uns das Leben bringen sollte. Und dann kamen die Weggabelungen; oder sollen wir sagen: die Kreuzwege? Wir mussten zwischen mehreren Möglichkeiten wählen, immerzu.
Wir haben einen Beruf ergriffen, sind einer Berufung gefolgt – und manch andere Tätigkeit, die uns auch entsprochen hätte, kam nicht mehr in Frage. Wer sich für einen Ehepartner, eine -partnerin entschied, für eine Familie, musste auf vieles verzichten, was er oder sie vorher tun oder sich leisten konnte. Ich schau auch auf mich selbst: Ich habe die Ehelosigkeit gewählt im Ordens- und Priesterberuf, ich habe mich der Möglichkeit begeben, ein guter Ehepartner und Vater zu werden und manches andere blieb auf der Strecke auf dem Weg des Lebens. Überall, wo wir uns für eines entschieden haben, hat anderes zurücktreten müssen.
Und manchmal – vielleicht – dachten wir wie der junge Mann: Was habe ich doch alles aufgegeben und hinter mir gelassen! Wie viele Möglichkeiten sind da ungenutzt geblieben! Wie viele Pläne musste ich begraben! Wie wenige meiner Träume sind in Erfüllung gegangen, und wie viele Wege bin ich nicht gegangen! Das Leben glich einmal einem Land mit tausend Möglichkeiten; jetzt wird es immer enger. Aber, haben wir nicht auch spüren dürfen, immer wieder einmal und voll Dankbarkeit: Es war doch gut, dass ich mich auf diesen und keinen anderen Weg eingelassen habe. Ich bin auf dem Weg, den ich eingeschlagen habe, weitergekommen, bin erfahrener und reifer geworden. Ich verstehe jetzt besser, worauf es Im Leben eigentlich ankommt. Wäre ich darauf aus gewesen, alle möglichen Wege zu gehen, hätte ich nirgendwo in die Tiefe gehen und Halt finden können. Und, ja in der Tiefe, das spüre ich, da ist noch mehr. Ältere Leute sagen manchmal: Ich möchte nicht nochmal zwanzig sein. Vielleicht meinen sie damit: Ich möchte die Plagen der vergangenen Jahrzehnte nicht noch mal erleben. Oder vielleicht doch eher: Ich möchte die Erfahrungen, die ich in meinem Leben habe machen dürfen, nicht mehr, nie mehr missen. Nein, Leben bedeutet gerade nicht, eingeengt zu werden, sondern voranzukommen und aufwärtszugehen; so wie bei dem jungen Mann, der am Ende auf einem Gipfel steht und alles überschaut. Leben bedeutet, dass jeder Verlust, den wir hinnehmen, Chancen in sich trägt und dass das vermeintliche Paradox, das Jesus mit seinem Wort anspricht, schon mitten in unserem Alltag immer aufs Neue anzutreffen ist. Wer ängstlich festhalten, gar klammern und keine Möglichkeit auslassen will, erfährt gerade nicht, was Leben wirklich heißt.
„Wer sein Leben retten will, wird es verlieren. Wer aber sein Leben um meinetwillen verliert, wird es gewinnen“ (Mt 16,25). Das „um meinetwillen“ lässt uns auf Jesus selbst schauen. Nun, Jesu eigenes Lebenszeugnis sagt, dass in jedem Leben etwas ist, das von vorneherein weit über alles hinausreicht und sein Ziel jenseits aller Grenzen in Gott hat, dem wirklichen Gipfel. Dieses „göttliche Leben“ gilt es zu finden und zu gewinnen.
Jesus hat sich auf seinen Weg ganz eingelassen, ohne Seitenwege und Ausflüchte in Betracht zu ziehen. Vordergründig ist er damit gescheitert – am Kreuzweg, der nach Golgota hinführte, so wie alle Kreuzwege zunächst einmal in die Vergeblichkeit zu weisen scheinen. Aber dieser Gekreuzigte ist zugleich der Auferstandene: Indem er sich hingegeben hat, gewann er das Leben in Fülle. Petrus will das verhindern und holt sich von Jesus eine Abfuhr (vgl. Mt 16,22-23)! Er, wie die Jünger und auch wir müssen lernen zu verstehen: Dass wir, wenn wir uns als Christen für ein Leben auf seinem Weg und mit ihm entschieden haben, im Dienst am Nächsten um seinetwillen selbst Beschenkte sind, dass wir in seiner Nachfolge niemals alleine, sondern miteinander unterwegs sind und bleiben und dass unser Bemühen, mit Jesu Augen zu sehen, zu einer beglückenderen Sicht des Lebens führt. Und selbst da, wo wir kein inneres Wachstum mehr spüren, wo es abwärts zu gehen scheint, ja selbst da, wo wir einmal alles zurückzulassen haben im Tod, zeigt uns Jesus durch sein Sterben und Auferstehen: Wer sein Leben verliert, wird es gewinnen. So konnte Jesus am Kreuz auch sagen: „Es ist vollbracht“ und sich ganz auf Gott hin loslassen. In ihm ist das Leben in Fülle (vgl. Joh 1,16; 10,10)!
Seien Sie gesegnet und behütet auf ihrem Weg! Ihr P. Guido