Ich erkenne dich an der Stimme
Predigt zum 4. Ostersonntag – C – Offb 7,9.14b-17 und Joh 10,27-30
„Meine Schafe hören auf meine Stimme“, sagt Jesus zu Beginn des kurzen Evangeliums am 4. Sonntag der Osterzeit, dem sogenannten Sonntag des Guten Hirten. Sie hören auf seine Stimme, weil sie ihn an seiner Stimme erkennen. So erkennt Maria von Magdala, ohne auch nur einen Augenblick zu zweifeln, wer sie da am leeren Grab mit ihrem Vornamen Mariaanspricht und wem sie daraufhin – ebenfalls mit unverwechselbarer Stimme – zärtlich „Rabbuni – mein Meister“ zuruft (vgl. Joh 20,16). Aber auch im Alltag gibt es das: Ich erinnere mich, dass ich einmal einen Bekannten angerufen habe, mit dem der Kontakt lange unterbrochen war. Noch bevor ich meinen Namen nennen konnte, antwortete er mir: „Ich erkenne dich an der Stimme“.
Jeder, der mit dem Auto unterwegs ist, kennt die freundliche Stimme des Navigationsgerätes. Eine digital zusammengesetzte Frauen- oder Männerstimme. Oder die KI-Stimmen von Siri oder Alexa. Aber sie sind künstlich. Man merkt es sofort. Es ist bis heute noch nicht gelungen, ein Musikinstrument zu bauen, das es mit der menschlichen Stimme, ihrer Schmiegsamkeit, ihrer Elastizität und Beweglichkeit wie auch mit ihrem Resonanzvermögen aufnehmen könnte. Nun, jede Stimme hat ihre individuell gearteten Schwingungen. Deshalb ist es beispielsweise möglich, Türen mit Hilfe der Stimme zu öffnen. Es ist auf das Schwingung einer bestimmten Stimme einstellbar und öffnet und schließt sich, wenn der Betreffende, und nur er, ihm ein Codewort zuruft. Die Stimme ist also ein deutliches Kennzeichen unserer Persönlichkeit, ein akustischer „Fingerabdruck“ sozusagen. Sie offenbart durch ihre Dialektfärbung nicht nur, in welcher Gegend wir aufgewachsen sind. Sie lässt auch unsere innere Haltung und unseren seelischen Zustand aufklingen. In ihr sprechen wir uns selbst aus. Hier liegt ihr Geheimnis. Obwohl sie nur das Äußere, der Leib, der Träger des gesprochenen Wortes zu sein scheint, bringt sie doch das Innerste des Menschen zur Sprache. Durch ihre Klangfülle kann sie in bestimmten Situationen sogar den Inhalt unserer Worte überflügeln, ihn nahezu entbehrlich machen. Wenn aber im gesprochenen Wort die Seele dem nüchternen Kalkül und die Liebe der Zurechtweisung mit erhobenem Zeigefinger zum Opfer fällt, dann klingt die Stimme geschäftsmäßig und amtlich; es fehlt ihr die „Musik“, die sie prägende Charakteristik und sie erreicht uns – wenn überhaupt – nur wie aus weiter Entfernung.
Sicher haben sie schon einmal die eigene Stimme vom Tonband gehört. Da kommen Zweifel auf, ob man es selbst ist, der da gesprochen hat. Diese Erfahrung zeigt, dass unsere Stimme in den Ohren unserer Mitmenschen anders klingt, als wir sie selbst vernehmen. Entsprechend werden wir uns selbst ganz anders einschätzen, als unsere Umwelt es tut. So fragen wir uns: „Wer bin ich denn in Wirklichkeit? Wie erfahre ich Wahrheit über mich selbst?“ Es genügt jedenfalls nicht, nur auf die eigene Stimme zu hören. Wir brauchen auch die Stimmen anderer. Gut, wenn wir Menschen haben, die uns dann und wann wissen lassen, welchen Eindruck sie von uns gewonnen haben. Vielleicht wenden wir ein: „Ich habe erfahren müssen, dass man nur selten jemanden bessert, indem man ihm die Wahrheit sagt.“ Doch die entscheidende Frage in diesem Zusammenhang ist, wie die Wahrheit ausgesprochen wird. Man kann sie nämlich in einer Weise sagen, dass man dabei die Liebe vergisst. Man kann dem Mitmenschen ja sagen, was man wirklich von ihm hält, und dabei bemerken, dass der andere zusammenzuckt. Ich bin eben ehrlich, sagen wir dann zu uns selbst! Und dann, wenn es heraus ist, sind wir zufrieden. Das ist die Hauptsache, meinen wir, und im Weiteren überlassen wir es dem anderen, was er mit den Ohrfeigen anfängt, die ihm unsere vorgeb-liche Tugend versetzt. Was ist damit getan? Wenn ich einem anderen sage, dass ich ihn für einen Hornochsen halte - vielleicht braucht es Mut dazu, wenigstens unter gewissen Umständen, aber noch lange keine Liebe. Ebenso wenig ist es Liebe, wenn ich ihn anlüge und ihm sage, ich würde ihn bewundern. Beide Haltungen, wir kennen sie gut aus unserem Leben, haben eines gemeinsam: sie wollen nicht helfen. Sie verändern deshalb nichts.
„Cor ad cor loquitur“ sagt das Sprichwort: „Das Herz spricht zum Herzen“.
Heißt das nicht: Nur wo sich in dem, was ich sage, Wahrheit und Liebe miteinander vereinen, da bekommt die Stimme eine Schwingung, die es vermag, verschlossene Herzen zu öffnen. Der Evangelist Johannes hat den Kerngedanken christlichen Glaubens zu Beginn seines Evangeliums in den Satz gefasst: „Und das Wort ist Fleisch geworden“ (Joh 1,14). Diese Aussage meint, dass sich in Jesus, dem Gottes- und Menschensohn, Gottes Wahrheit über uns zusammen mit seiner Liebe zu uns mitteilt. Er spricht zu uns mit einer „Stimme“, die das Letzte und Tiefste im Menschen zu wecken, zu heilen und zu freizusetzen vermag. Das klingt an in der Stimme des „guten Hirten“, der seine Schafe beim Namen ruft. Er ist als Hirte bereit, sich ganz zu geben für die Seinen. Deshalb gibt es keinen, der unser Leben besser führt und behütet als er. „Ich kenne sie, und sie folgen mir“, sagt der gute Hirt. Und wir erkennen ihn an dieser Unverwechselbarkeit seiner Stimme. Wie aber lernen wir seine Stimme kennen? Durch das Hören auf sein Wort. Wer auf sein Wort hört, lernt seine Stimme kennen. Denken wir daran: Die hl. Schrift nicht kennen, heißt Christus nicht kennen! Er, der das Opferlamm ist (vgl. die Lesung aus Offb.) und der gute Hirte, will uns ganz nahe sein. Verlassen wir uns bei der Wahrnehmung der Botschaft des Evangeliums und der anderen Glaubensgeschichten der Bibel also auf unser inneres Ohr, auf die Wahrnehmung des Herzens. „Man sieht nur mit dem Herzen gut!“ so hat es Antoine de S. Exupéry im „Kleinen Prinzen“ geschrieben. Ich meine: Man entdeckt nur mit dem Herzen die Wahrheit der Liebe. Welcher Mensch hat jemals gesprochen wie Jesus Christus? „Cor ad Cor loquitur“ – „Das Herz spricht zum Herzen“.
Das Hören auf Jesu Wort schärft nicht nur unser Ohr für die Unverwechselbarkeit seiner Stimme. Es verwandelt uns zugleich, weil wir inmitten der Unsicherheiten unseres Lebens von seiner liebenden Hingabe, von seinem Herzen her innewerden, dass nichts und niemand „uns der Hand des Vaters entreißen kann“ (vgl. Joh 10,29).
Bleiben wir so in Gottes Nähe behütet und gesegnet! Ihr P. Guido