Heute ist diesem Haus das Heil geschenkt worden


Predigt zum 31. Sonntag im Jahreskreis – C – Weish 11,22-12,2 und Lk 19,1-10
Hätte die Begegnung Jesu mit Zachäus nicht auch anders verlaufen können? Vielleicht so:
Als Jesus dem Zachäus gesagt hatte: „Zachäus, komm schnell herunter! Ich muss heute in deinem Haus bleiben.“ Da stieg Zachäus von seinem Baum herunter und nahm Jesus freudig bei sich auf. Als die Leute das sahen, empörten sie sich und sagten: „Er ist bei einem Sünder eingekehrt.“ Zachäus aber schwieg. Als müsste er ihn darauf aufmerksam machen, sagte der Jesus zu ihm: „Hörst du nicht das Lärmen und Murren vor der Tür? Nicht ohne Grund machen dir diese Leute Vorwürfe. Dein betretenes Schweigen zeigt nur, wie recht sie haben. Wer andere so wie du übervorteilt, ausnützt und betrügt, braucht sich nicht zu wundern, wenn er verachtet und gehasst wird.“ „Ja schon, aber...“, versuchte Zachäus einzuwenden. „Kein aber! Du brauchst dich nicht herauszureden: Die Betroffenen sprechen eine klare und eindeutige Sprache. Da gibt es nur eins: Lasse es, die anderen auszunutzen; hör auf, dich auf ihre Kosten zu bereichern; versuche wiedergutzumachen, was noch wiedergutzumachen ist. Sonst wirst du auf die Dauer deines Lebens nicht mehr froh.“
Zachäus schwieg betroffen. Doch blieb für ihn zugleich alles beim Alten.
(Verfremdung nach: Steiner / Weymann, Jesus-Begegnungen, Zürich / Basel, 1984, S. 35)
Der Anfang dieser nacherzählten Geschichte verliefe so wie bei Lukas geschildert. Dann aber fällt auf, dass das Verhalten Jesu sich in der verfremdeten Erzählung ändert: Im Haus des Zachäus angekommen, zeigt Jesus Verständnis für das Murren der Menge, mit dem diese ihrem Ärger über Zachäus Ausdruck gibt, und ergreift mit einem Mal die Rolle des Belehrenden und Zurechtweisenden, ganz so, wie es vielfach unseren eigenen gängigen Verhaltensmustern als Eltern, Lehrern oder Vorgesetzten und auch der Praxis mancher Seelsorger und kirchlichen Amtsträgern entspricht. Zumindest mögen wir uns das so vorstellen oder wahrnehmen.
Jesus redet mit vielen Worten auf Zachäus ein. Er mahnt ihn, warnt ihn, überschüttet ihn mit Ratschlägen und moralischen Appellen: „Lasse es, hör auf, versuche wiedergutzumachen.“ Man sieht geradezu den erhobenen Zeigefinger dabei. Und doch, trotz all der engagierten Bemühung, „blieb für Zachäus alles beim Alten“, heißt es am Schluss bezeichnenderweise.
Die verfremdete Zachäus-Geschichte endet so mit einem wirklichen Schlusspunkt. Es geht nicht weiter, es gibt keine Entwicklung wie in jeder lebendigen Geschichte, keinen Höhepunkt, vor allem aber keine Hoffnung auf ein wie auch immer geartetes glückliches Ende. „Es blieb für Zachäus alles beim Alten“, heißt es lapidar. Wen wundert's? Moralische Appelle und erhobene Zeigefinger haben selten etwas neu ausgerichtet, sie langweilen mit der Zeit nur und verleiten zum Gähnen. Nichts bewegt sich, die Ablehnung verhärtet sich, und es bleibt in der Tat – nicht nur damals – „alles beim Alten“.
In der tatsächlich von Lukas erzählten biblischen Zachäus-Geschichte hingegen redet Jesus wenig, setzt aber vieles in Bewegung. Statt moralischer Appelle bricht er die Vorbehalte und Vorwürfe der damaligen Gesellschaft gegenüber den Zöllnern und ich möchte ergänzen gegenüber den Sündern auf. Jesus lässt sich mehr als nur einmal von solchen Zeitgenossen einladen, schafft Beziehung und schenkt seine Nähe, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Lukas verstärkt dieses Tun Jesu noch, indem er – das ist das einhellige Urteil der Fachleute – den Vers, der die Bekehrung des Zachäus betont „die Hälfte meines Vermögens will ich den Armen geben und wenn ich von jemandem zuviel gefordert habe, gebe ich ihm das Vierfache zurück“ (vgl. Lk 19,8), wie ein Ausrufezeichen für die Umkehr des Ober-Zöllners einfügt. Das zeigt uns aber, dass es die ursprüngliche Absicht dieser Erzählung gewesen ist, die schenkende und absolut zugewandte, keine Gegenleistung voraussetzende Verhaltensweise Jesu hervorzuheben. Jesus schenkt sich und seine Nähe. Damit will er sagen, dass Gott ebenso handelt. Aber gerade weil er das tut und nicht wegen irgendwelcher moralischer Appelle, kann dann alles Weitere wie selbstverständlich geschehen. Jesu Wort: „Heute ist diesem Haus das Heil geschenkt worden“ (Lk 19,9), sagt schon alles, was zu sagen ist, und bedarf eigentlich keiner plakativen Aufzählung der Wiedergutmachungsaktivitäten des Ober-Zöllners. Mit der Lebenschance, die Jesus auch dieser verachteten Randfigur in der damaligen Gesellschaft eröffnet, indem er ihr seine Nähe schenkt, wird Zachäus zu wirklicher Liebe und zur Großzügigkeit befreit und entdeckt das Leben neu.
Das alles gelingt Jesus, gerade weil er keine Moralpredigt hält. Die Begegnung mit Jesus schafft hier, wie auch sonst im Evangelium, einen Lebensraum des Verstehens und der Versöhnung, in welchem sich besonders diejenigen zu Hause fühlen, die von anderen ausgeschlossen und an den Rand gedrängt werden. Gerade deshalb aber bleibt nichts beim Alten, sondern alles kommt in Bewegung; wir bräuchten gar nicht so detailliert erfahren wie.
Am Ende wird deutlich, warum uns diese Geschichte erzählt wird. Auch wir sollen begreifen, dass einzig das Geschenk der Nähe Jesu – und in ihm der Nähe Gottes – das Heil schenkt, Umkehr ermöglicht und ebenso Heilung durch den Glauben an diesen nahen Gott. In Jesus und seiner bedingungslosen Zuwendung und Nähe wird dem, der sich ihm öffnet, ein Lebensraum eröffnet, der im wahrsten Sinne des Wortes Zukunft und Hoffnung schenkt. Es ist die Zukunft des Gottesreiches und die Hoffnung des Neuen Lebens, die sich in Jesus erfüllt haben, und aus denen wir als Menschen in der Nachfolge Jesu leben dürfen. Es ist ebenso die aus der liebenden Nähe Gottes entstehende Liebe zum Mitmenschen und zur ganzen Schöpfung Gottes, die gleichzeitig Gabe und Aufgabe ist: Lassen wir also – auch als Kirche – den moralischen Zeigefinger beiseite und widmen wir uns aus Liebe zum Mitmenschen und zu dieser Welt dem Lebensraum der Nähe Gottes durch unser Leben in Wort und Tat. Das ist unsere gottgeschenkte Gabe und Aufgabe. Gottes Gnade wird uns dabei helfen.
Seien Sie in der Liebe Gottes gesegnet und behütet! Ihr P. Guido