Der Maßstab ist die zupackende Liebe
Predigt zum 29. Sonntag im Jahreskreis – B – Jes 55,10-11; Hebr 4,14-16 u. Mk 10,35-45
Eine Geschichte möchte ich Ihnen erzählen. Der russische Schriftsteller Leo N. Tolstoi (1828-1910) hat sie aufgeschrieben:
Drei Frauen wollten am Brunnen Wasser holen. Nicht weit davon saß ein alter Mann auf einer Bank und hörte zu, wie die Frauen ihre Söhne lobten. „Mein Sohn“, sagte die erste, „ist ein geschickter und wendiger Junge. Er übertrifft an Behändigkeit alle Knaben im Dorf.“
„Mein Sohn“, sagte da die zweite, „hat eine Stimme wie eine Nachtigall. Wenn er singt, schweigen alle Leute still und bewundern ihn. Er wird einmal ein großer Sänger werden.“
Die dritte Frau schwieg. „Warum sagst du gar nichts über deinen Sohn?“ fragten die beiden anderen. „Ich wüsste nicht, womit ich ihn loben könnte“, entgegnete diese. „Mein Sohn ist nur ein gewöhnlicher Junge und hat nichts Besonderes an sich. Aber ich hoffe, er wird einmal im Leben seinen Mann stehen!“
Die Frauen füllten ihre Eimer und gingen heimwärts. Der alte Mann ging langsam hinter ihnen her. Er sah, wie schwer es ihnen ankam, die Wassereimer zu schleppen, und er wunderte sich nicht, dass sie nach einer Weile ihre Last absetzen mussten, um ein wenig zu verschnaufen. Da kamen ihnen die drei Jungen entgegen. Der erste stellte sich auf die Hände und schlug Rad um Rad. „Welch ein geschickter Junge!“ riefen die drei Frauen. Der zweite stimmte ein Lied an, und die Frauen lauschten ergriffen mit Tränen in den Augen. Der dritte Junge, nun, er lief zu seiner Mutter, ergriff wortlos die beiden Eimer und trug sie heim.
Die drei Frauen wandten sich zu dem alten Mann um und fragten: „Was sagst du zu unseren Söhnen?“ - „Eure Söhne?“ fragte der erstaunt. „Ich sehe nur einen einzigen Sohn!“...
Einerseits ist das Urteil des Alten überraschend, aber dennoch zutreffend. Nicht der Stolz der Mütter oder ihr Karrieredenken ist der Maßstab für das Sohn-Sein. Nichts gegen schönes Singen, nichts gegen körperliche Fitness! Entscheidend ist aber: Die zupackende Liebe. Sie ist der Maßstab, mit dem der Alte die Söhne misst. Und um ihn geht es, um den rechten Maßstab.
Wenn man einen Text aus den Evangelien, ja, aus den heiligen Schriften des Alten wie des Neuen Testamentes betrachtet und liest, dann sollte man darauf achten, nichts in das Wort hineinzulesen, sondern dem Wort zuzuhören. Lassen wir also das Wort der Frohen Botschaft sprechen.
Unmittelbar vor dem heutigen Evangelium hat Jesus zu den Jüngern noch einmal von seinem Leidensweg gesprochen. Offensichtlich haben sie auch jetzt wie vorher (vgl. Mk 8,31-33 u. 9,30-32) nichts von dem Gesagten verstanden. In ihrem Denken sind sie noch ganz in ihrem alten Leben und seinen Zielen ohne Jesus gefangen. Lediglich richtet sich jetzt das Karrieredenken, zumindest wird das bei den Brüdern Jakobus und Johannes deutlich, auf den himmlischen und nicht auf den Irdischen Lohn. Ihr Maßstab passt nicht zum Weg Jesu! Jesus rückt ihn zurecht. Nicht nur in Bezug auf die beiden Bittenden, die ja mit Petrus zu den sogenannten „Säulen“ der Gemeinde gehören, sondern bei allen Jüngern.
Die besten Plätze, Karriere, Lob... wer sich darum bemüht, darum kämpft, liegt im Reich Gottes daneben. Übrigens, die Unterscheidung zwischen „himmlisch“ und „irdisch“ für das Reich Gottes ist ebenso falsch: Das Reich Gottes, die Herrschaft Gottes, die mit Jesus beginnt, ist nicht allein jenseitig und himmlisch. Das Reich Gottes ist seit Jesus gegenwärtig und wird sich am Ende, am sogenannten „Jüngsten Tag“ in der Wiederkunft Christi vollenden. Es wird sichtbar, wo die Liebe gelebt wird. In unserem Text zeigt sich, was in der frühen Christengemeinde - wie auch heute - immer wieder akut war und ist. Es kann in der Gemeinde Christi niemals das Gerangel um die Ehrenplätze, um Positionen auf der Karriereleiter im Vordergrund stehen. Papst Franziskus wird durch sein Handeln und seine Mahnungen nicht müde, darauf hinzuweisen. „Gott sei Dank!“ gibt es in der Kirche, schon immer Menschen, die - im Bild der kleinen Geschichte vom Anfang gesprochen - die Wassereimer in die Hand und das Kreuz des Dienens auf die Schultern nehmen. Es gibt aber auch die anderen, die sich bequem bedienen lassen. Da stimmt der Maßstab nicht! Und gleichzeitig sind da jene, die oft genug die Nase rümpfen über die anderen und von deren angeblichem Streben nach Positionen und Titeln reden. Auch der Maßstab ist falsch!
Jesus sagt deutlich, was den Weg der Jünger, der Christinnen und Christen, was den Weg der Gemeinde ausmacht: Gegen den Trend des „sich bedienen lassen“ setzt er das Dienen. Um es mit der Geschichte von Leo Tolstoi zu sagen, „Sohn oder Tochter oder Kind Gottes ist, wer den Maßstab der zupackenden Liebe bei sich anlegt“. Christ-Sein und damit Gemeinde Jesu Christi gestalten sich im selbstverständlichen Dienst aller aneinander, so wie es der Herr selbst vorgelebt hat. Wir alle wissen, mit einem wachen Blick auf unsere Zeit und die innerkirchlichen Probleme, dass es hier große Defizite gibt. Genau darauf antwortet das Wort Jesu, wenn er vom Kelch und von der Taufe spricht: Die Taufe deutet auf das Sakrament, in dem wir in Lebensgemeinschaft mit Christus als Gottes Kinder neu geschaffen wurden. Der Kelch zeigt hin auf sein Leiden, sein Blut, das er für uns vergießt, und ebenso auf den neuen Bund, den Gott mit uns als Christen geschlossen hat. Sein eigenes DIENEN ist das Lösegeld, das uns als Menschen in der Nachfolge Christi befreit für den Dienst aneinander und uns ebenso befreit von falschen und vergänglichen Lebenszielen. Der Urgrund unserer Berufung ist von Jesus her der Ruf zum Dienen. Das ist der rechte Maßstab! Vom römischen Schriftsteller Tertullian (2. Jhdt.) werden die Christen als Menschen beschrieben, die füreinander da sind, einander tragen und stützen: „Seht, wie sie einander lieben!“ heißt es bei ihm. Er erklärt damit, warum die Christen angesehen und geschätzt bei vielen Zeitgenossen waren. Der französische Bischof Jacques Gaillot (1935-2023) hat diesen Zusammenhang einmal sehr griffig ausgedrückt: „Kirchen, Gemeinden, Christen, die nicht dienen, dienen zu nichts!“ Nur wenn wir, befreit durch Christus, aus dem inneren Engagement der Liebe untereinander und füreinander leben, ist unser Zeugnis in der äußeren Welt auch glaubwürdig. Diesen Dienst schulden wir einander und ebenso unseren Mitmenschen und der Welt!
Öffnen wir unsere Herzen füreinander und seien wir so behütet!
Ihr P. Guido