Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein
Predigt am 5. Sonntag der Fastenzeit – B – Jer 31,31-34; Hebr 5,7-9 u. Joh 12,20-33
„Herr“, sagen die höflichen Griechen zu Philippus, „wir möchten Jesus sehen.“ Und der bemüht noch den Andreas, um die Bitte weiterzuleiten. (Vgl. Joh 12,21-22) Aber Jesus scheint gar nicht darauf zu einzugehen. Die bittenden Griechen im heutigen Evangelium wie der fragende Nikodemus im Evangelium vom letzten Sonntag (vgl. Joh 3,14-21) verschwinden unversehens aus unserem Blickfeld. Übrig bleiben als Adressaten der Worte des Herrn jetzt die Jünger Jesu –damals in der johanneischen Gemeinde und heute sind wir es, die diese Worte hören.
Jesus spricht von „seiner Stunde“: „Die Stunde ist gekommen, dass der Menschensohn verherrlicht wird“ (Joh 12,23). Diese Stunde meint nach Johannes seinen Tod, in dem sich die Verherrlichung schon vollzieht. Das ist die Bedeutung des Bildwortes vom sterbenden und fruchtbringenden Weizenkorn. Die Haltung Jesu wird deutlich. Man könnte es das Grundgesetz seines Lebens nennen. Er will sich nicht selbst bewahren, sondern ist bereit, sein Leben einzusetzen, hinzugeben. Er kann es so absolut, weil er sich im himmlischen Vater geborgen weiß.
„Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt,bleibt es allein; wenn es aber stirbt, bringt es reiche Frucht“ (Joh 12,24). Wir alle streben nach mehr Lebensqualität, wie immer man sie sich vorstellen mag! Dass wahre Lebensqualität nur im Einsetzen und Hingeben seiner selbst zu haben ist, hat Lothar Zenetti (1926-2019) zu dem Text eines Liedes (im Gotteslob Nr. 210) inspiriert. Es mag uns in der Betrachtung des heutigen Evangeliums begleiten:
- Das Weizenkorn muss sterben, sonst bleibt es ja allein; der eine lebt vom andern, für sich kann keiner sein. Geheimnis des Glaubens: im Tod ist das Leben.
Genau das gilt es von Jesus zu lernen: „Der eine lebt vom andern.“ Wie sehr wir noch am Anfang dieses Lernprozesses stehen, erfahren wir gerade in unseren Tagen angesichts des in der westlichen Gesellschaft überbordenden Individualismus, der sich nicht nur als egoistisches Verhalten vieler einzelner äußert, sondern auch als nationalistische und rassistische Bewegung im Denken und Handeln mancher Zeitgenossen. Christlich ist das alles nicht.
Jesus verwendet mit dem Weizenkorn nicht von ungefähr ein Bild aus der Natur. Jeder weiß: Das Leben auf der Erde wäre schon längst erloschen, wenn nicht das Sterben oder richtiger die Verwandlung von Samenkörnern in der Erde neue Früchte hervorbrächte. Dieses Bild ist hier allerdings nur ein Verweis auf Größeres. Jesus sieht seinen ureigenen Weg: Er wird sterben, um neues Leben für uns zu schaffen, Leben von völlig neuer Qualität, Leben aus Gott selbst. Lothar Zenetti sagt es wiederum so:
- So gab der Herr sein Leben, verschenkte sich wie Brot. Wer dieses Brot genommen, verkündet seinen Tod. Geheimnis des Glaubens: im Tod ist das Leben.
Wir haben dieses Brot genommen und nehmen es immer wieder, bei jedem eucharistischen Mahl, bei jeder Kommunion. Deshalb sind wir auch berufen zum Leben aus dem Tod Jesu, das jetzt schon von uns Besitz ergreifen will. Der Gekreuzigte und Auferstandene will in uns leben. Diesen Glauben bekennen wir, wenn auch immer wieder angefochten, inmitten einer Welt, die hartnäckig nach einem Mehr an Reichtum und Wohlstand, Genuss und Glück strebt und in der Vorspiegelung eines Lebens allein auf materieller und damit vergänglicher Basis beharrt. Wer aber als Glaubender in Christus zu leben versucht, schaut auf ihn und sein Kreuz und lebt aus der Hoffnung des göttlichen Lebens, genauer, der hat dieses neue Leben schon, von dem Jesus spricht, und der wird es dann auch teilen, mit anderen teilen. Im Liedtext heißt es:
- Wer dies Geheimnis feiert, soll selber sein wie Brot; so lässt er sich verzehren von aller Menschennot. Geheimnis des Glaubens: im Tod ist das Leben.
Die Armut, der Hunger so vieler Menschen unserer Welt schreien nach Hilfe, rufen nach dem Brot, das wir mit ihnen teilen. Laut den Vereinten Nationen litten im Jahr 2022 weltweit rund 735 Millionen Menschen an Hunger. Das Leitwort der diesjährigen Fastenaktion Misereor „Interessiert mich die Bohne“ erinnert deshalb an das Grundnahrungsmittel in Kolumbien aber auch an die fehlenden Nahrungsmittel in vielen Ländern.
„Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein; wenn es aber stirbt, bringt es reiche Frucht“ (Joh 12,24). Das Sterben, von dem da die Rede ist, hat etwas zu tun mit loslassen und hergeben. Richtig leben wir nicht auf Kosten anderer, sondern auf eigene Kosten für andere. Daran haben wir, wie man sagt, immer wieder zu kauen. Wenn wir uns aber darauf einlassen, wie zögerlich auch immer, beginnen wir zu ahnen, dass es viele kleine Tode zu sterben gilt, aus denen dann reiche Frucht erwachsen kann. Dann lernen wir zu verstehen, was es heißt: Im Tod ist das Leben. Indem wir etwas von uns sterben lassen – wirklich loslassen, werden wir selbst verwandelt, wird der Blick geweitet über unser kleines ICH hinaus. Dann gilt, was die letzte Strophe des Liedes besingt:
- Als Brot für viele Menschen hat uns der Herr erwählt; wir leben füreinander und nur die Liebe zählt. Geheimnis des Glaubens: im Tod ist das Leben.
„Wer sein Leben liebt, verliert es; wer aber sein Leben in dieser Welt gering achtet, wird es bewahren bis ins ewige Leben“ (Joh 12,25). Das nimmt das Bildwort vom Weizenkorn auf. Es sagt uns, wie wir wahres Leben finden können. Die Antwort klingt paradox: Gerade wer sein Leben liebhat, d. h. es unter allen Umständen festhalten will und so nur auf sich selbst fixiert ist, sich selbst also nicht loslassen kann, wird es verlieren. Warum? Weil er aus der Angst vor dem Verlust lebt. Die Verlustangst verhindert das Leben selbst. Eigentliches, wahres Leben im Sinne Jesu finden wir so nicht. Wer dagegen sein Leben in dieser Welt, in der es doch ständig vom Tod bedroht ist, gering achtet, d.h. es nicht als einen um jeden Preis festzuhaltenden Wert betrachtet, weil er in Gott lebt, wird es bewahren. Die Preisgabe des Lebens ist der Preis des Lebens selbst. Wahres Leben lebt aus dem „Sich-verschenken“ und „Sich-loslassen“. Das ist das Lebensgesetz Jesu, und jeder, der diesen Lebensweg mit ihm zu gehen wagt, wird an ihm teilhaben im Leben wie im Sterben. Das zu begreifen und wirklich in Herz und Verstand anzunehmen, vermag uns zu erschüttern. Denn so ahnen wir die ewige Weite der göttlichen Liebe.
Seien Sie gesegnet und behütet in dieser seiner Liebe! Ihr P. Guido