Wahre Liebe ist Hingabe nicht bloß Hergabe
Predigt zum 32. Sonntag im Jahreskreis – B – 1 Kön 17,10-16; Hebr 9,24-28 u. Mk 12,41-44
Martin Buber berichtet in seinen „Erzählungen der Chassidim“ eine kleine Geschichte von Rabbi Naftali: „In Robschitz, Rabbi Naftalis Stadt, pflegten die Reichen, deren Häuser einsam oder am Ende des Ortes lagen, Leute anzustellen, die nachts über ihren Besitz wachen sollten. Als Rabbi Naftali sich eines Abends spät am Rande das Waldes erging, der die Stadt säumte, begegnete er solch einem auf und nieder wandelnden Wächter. „Für wen gehst du?“ fragte er ihn. Der gab Bescheid, fügte aber die Gegenfrage daran: „Und für wen geht Ihr, Rabbi?“ Das Wort traf den Zaddik wie ein Pfeil. „Noch gehe ich für niemand“, brachte er mühsam hervor. Dann schritt er lange schweigend neben dem Mann auf und nieder. „Willst du mein Diener werden?“ fragte er endlich. „Das will ich gern“, antwortete jener, „aber was habe ich zu tun?“ „Mich erinnern“, sagte Rabbi Naftali.“ (Martin Buber „Die Erzählungen der Chassidim“ Manesse Verlag Zürich 1949, S. 671)
Erinnern, wofür er steht und für wen er geht. Das ist die Aufgabe, die Rabbi Naftali dem Wächter überträgt. Der Evangelist Markus will mit der Geschichte der armen Witwe am Eingang des Tempels, die zwei kleinen Münzen in den Opferkasten geworfen hat, seine Gemeinde und auch uns nach den Worten Jesu ebenso daran erinnern, wofür wir und unser Leben stehen. Die Witwe hat nicht einfach nur etwas vom Überfluss hergegeben, sie gab ihren „Lebensunterhalt“ – so wird es uns übersetzt. Genauer aber steht im Urtext „sie gab alles des Lebens selbst“ (vgl. Mk 12, 44). Gut, das kann man mit „Lebensunterhalt“ wiedergeben. Aber im Grunde ist es doch mehr: Die Witwe hat damit deutlich gemacht, dass sie „ihr Leben“ gegeben hat. Wenn sie alles gibt, was sie hat, kommt das ja dem Sterben gleich, denn sie hat dann nichts mehr, wovon sie selbst leben kann. Wer immer nur vom Überfluss gibt, etwas verschenkt, aber nicht sich selbst, der hat nicht begriffen, was wahre Liebe ist. Sie ist Hingabe und nicht bloß Hergabe. Jesus sagt: „Wer sein Leben gewinnen will, wird es verlieren“ (Mk 8,35).
Wir werden daran erinnert, dass wir uns und unser Leben Gott selbst verdanken. Dabei geht es hierbei nicht um Moral. Jesus predigt auch nicht mit erhobenem Zeigefinger. Es geht um „Glücklich werden“. Was macht beispielsweise in einer Beziehung wie der Ehe glücklich? Macht es glücklich, wenn man Wichtiges von sich selbst ausspart, vielleicht vieles gibt, aber nie sich selbst? Gott und den Nächsten lieben, wie sich selbst mit ganzer Hingabe steht nicht gegen die Selbstverwirklichung, es ist der Weg dorthin. Es geht um die Qualität der Hingabe, nicht um die Quantität. Gott liebt uns Menschen ganz. Das hat er in Jesus Christus bewiesen. Jesus hat sich ganz hingegeben für uns. Es geht um meine, um unsere Art der Antwort auf dieses Handelns Gottes. Es geht um unsere Einstellung. Das ist die alles entscheidende Frage.
Dass wir uns gegenseitig erinnern, wofür und weswegen wir da sind, dafür sind wir uns gegenseitig „Wächter“. Das, was im Grunde die Menschen zur Zeit Jesu für ganz selbstverständlich erachtet haben, dass sie nämlich alles – auch sich selbst – ihr Leben Gott verdanken, das ist vielen unserer Zeitgenossen – vielleicht auch uns selbst abhanden gekommen. Das Zeugnis der Witwe am Tempeltor, bringt uns da auf den Boden der Tatsachen zurück! Da muss sich grundlegend etwas in unserem Leben ändern!
Dazu müssen wir noch einen Schritt weiter gehen. Letztlich geht es um die Bestimmung des rechten Verhältnisses zu Gott. Dazu muss ich jetzt noch einmal eine kleine Geschichte erzählen, die ich vor einiger Zeit gelesen habe. Leider weiß ich nicht mehr, wo ich sie fand. Nun, gut. Hier ist die Geschichte:
Den Nomaden in der Wüste ist die Gastfreundschaft heilig. Abraham, der Stammvater Israels, begegnete auf seinem Weg durch die Wüste einem alten Mann, der im Gegensatz zu Abraham ein Leugner Gottes war. Nun, dennoch lud ihn Abraham in sein Zelt, damit er bei ihm essen solle. Lange zierte sich der Alte. Aber dann stimmte er zu und trat ein. Nachdem beide gegessen hatten, drang Abraham auf ihn ein und bat ihn, dass er für die Wohltat Gott danken solle. Da sagte der Alte zu Abraham: „Ich habe dir gleich gesagt, dass ich mein Brot nicht in deinem Zelt essen will. Ich verehre meine Götter wie immer. Sie sind aus Holz und Metall gemacht. Die kann ich wenigstens anfassen. Nein! Deinen Gott, den ich nicht sehe und berühre, mag ich nicht verehren.“ – Je mehr Abraham nun in ihn drang um so mehr wehrte sich der Alte. Schließlich war Abraham verärgert ob der ablehnenden Haltung des Gastes und er warf ihn aus seinem Zelt.
Kurz darauf fragte Gott den Abraham, wo sein Gast sei. Da sagte Abraham: „Er ist ein undankbarer Kerl. Ich bewirtete ihn und teilte das Brot mit ihm. Als ich ihn aber bat, dir zu danken, weigerte er sich. Da habe ich ihn rausgeworfen!“ Da sprach Gott zu Abraham: „Weißt du, viele Jahre habe ich diesen Alten erhalten und ihn auch in seiner ablehnenden Haltung geduldig ertragen. Und du konntest das nicht einmal eine Stunde und hast ihn in die Gefahr und Hitze der Wüste hinausgeworfen?“ Da war Abraham betroffen bis in sein Innerstes und bat Gott um Vergebung. Und Gott sagte ihm, er würde die Vergebung nur erhalten, wenn er seinerseits den Alten darum bäte.
Und Abraham suchte den Alten und als er ihn fand, fiel er ihm zu Füssen und bat um Verzeihung, weil er gegen die Gastfreundschaft und Liebe gesündigt hatte.
Was für die arme Witwe die beiden Münzen waren, die sie gab, ihr Leben selbst, waren für Abraham das Hören auf Gott und der unbedingte Gehorsam gegenüber Gottes Willen.
Das ist vielleicht unser eigenes Tempelopfer, das wir Gott bringen können: Dass wir einander mehr und mehr Abbild seiner Liebe und Geduld werden und so Gottes Liebe auch sichtbarer und greifbarer in unserer Welt werden kann. Erinnern wir uns: Ihm verdanken wir uns selbst.
Seien Sie gesegnet und behütet!
Ihr P. Guido