Predigt zum 24. Sonntag im Jahreskreis – A – Sir 27, 30-28, 7 u. Mt 18, 21-35
Machen wir uns klar: Ein Leben ohne Schuld gibt es nicht. Ein Leben ohne Fehltritte gelingt keinem Menschen. Denn da, wo wir unser Leben ausprobieren und unserer Lebendigkeit und unseren Fähigkeiten Raum zur Entwicklung lassen, ist es unvermeidbar, dass wir Fehler machen, dass wir andere Menschen durch unser Tun oder Lassen verletzen, dass wir das eigene Leben oder das der anderen behindern oder einengen. Sich deshalb aber zurückzuhalten und aus Angst vor Schuld und Sünde hinter den von Gott mitgegebenen Fähigkeiten zurückzubleiben, das ist für mich die größere Sünde. Warum? Weil wir damit Gott keinen Raum in unserem Leben geben. Wenn wir es aus Angst vor Versagen nicht mehr wagen zu leben, kann Gott ja nichts mit uns anfangen, weil wir ihm verweigern, in uns und mit uns und durch uns lebendig zu sein. Das kann nicht von Gott her gewollt sein, da er für uns das Leben in Fülle will. Es kann also nicht die Tragik unseres Lebens sein, dass wir schuldig werden, vielmehr besteht die Tragik darin, dass wir oft falsch mit unserem Fehlverhalten umgehen und so in Schuld und Sünde bleiben. Wir sind ein Leben lang, Tag für Tag, darauf angewiesen, dass uns verziehen wird, wo wir verletzt haben, dass uns Verständnis entgegengebracht wird und auch, dass uns in Liebe begegnet wird, wo wir Grenzen zerstört oder Leben behindert oder gar vernichtet haben.
Dass Vergebung zur Zeit Jesu weniger die Angelegenheit eines liebenden Herzens als eines streng reglementierten religiösen Gebotes war, beweist die Frage des Petrus: „Wie oft muss ich meinem Bruder vergeben, wenn er gegen mich gesündigt hat?“ (Mt 18,21). Die streng am Gesetz orientierten Pharisäer vertraten die Meinung, dreimaliges Vergeben wäre ausreichend, doch in der Ahnung um Jesu Einstellung zu solchen Vorgaben, bietet Petrus schon mehr als das Doppelte: „Siebenmal?“ Die Antwort Jesu: „Siebenundsiebzigmal!“
Nun, Petrus war sicher von der Antwort Jesu geschockt. Wusste er doch, wie wir alle es ebenso wissen, dass die Forderung Jesu fast unmöglich scheint. Aber ist das wahr?
Obwohl wir manche der Verletzungen wieder gutmachen können, ist trotzdem nichts so, wie es vorher war. Geschehenes ist nicht zurückzunehmen, Worte, die ausgesprochen wurden, können nicht zurückgeholt werden. Die so geschlagenen Wunden brauchen Zeit zum Heilen. Verheilte Wunden hinterlassen Narben. Mit diesen Narben, die uns zugefügt wurden oder die wir anderen zugefügt haben, müssen wir leben lernen. Also ahnen wir, dass es bei der Frage nach Schuld und Vergebung nicht um Zahlen oder um Aufrechnungen gehen kann. Worum also geht es?
Da hilft der Blick auf Jesus selbst, denn Jesus hat gezeigt, wie eine Lösung aussieht. Er hat in seiner Friedensliebe sein Leiden angenommen und durchgetragen. Ohne Anschuldigungen gegen den Verräter Judas oder den Verleugner Petrus hat er mit ihnen zusammen am Tisch gesessen und das Brot der Liebe mit ihnen geteilt und den Kelch des Lebens mit ihnen getrunken. Er starb am Kreuz nicht mit Rache- oder Fluchworten gegen seine Peiniger, sondern mit der „Bitte um Vergeben“ an seinen Vater für sie, wie es Lukas erzählt (Lk 23,24). Vor allem aber hat Jesus im „Vaterunser“ den Jüngern und uns die entscheidende Richtung vorge-geben. Dort heißt es: „…vergib uns unsere Schuld, wie auch wir unseren Schuldigern vergeben“ (vgl. Mt 6,9-13 u. Lk 11,2-4).
Es geht also in unserem Text nicht um ein Rechenexempel oder um eine Abrechnung! Dann bliebe man nämlich, um es in einem ökonomischen Begriff zu sagen, im Insolvenzverfahren hängen. Barmherzigkeit ist das Stichwort und die Barmherzigkeit verändert den Blickwinkel völlig. Jesus geht es im Gleichnis um Barmherzigkeit und um die Schwierigkeit zu vergeben; für uns heute kommt die fehlende Fähigkeit, um Vergebung zu bitten, noch hinzu. Die Schuldner im Gleichnis waren sich ihrer Schulden voll bewusst, wahrscheinlich gab es Schuldscheine, die jedes Talent und jeden Denar belegten. Das Wissen um persönliche Schuld ist heute aber weitgehend verloren gegangen. Die Verhältnisse sind schuld, das Elternhaus, die Schule, der Arbeitgeber, die anderen oder, weil sie sich nicht wehren kann, die Gesellschaft. Richtig ist, dass Schuld oft viele Ursachen hat, aber eine – und oft die wichtigste – ist die persönliche Schuld. Doch wer sich für schuldlos hält und Schuld nicht eingesteht, kann nicht um Vergebung bitten. Und wer nicht um Vergebung bittet, dem kann und braucht auch nicht vergeben zu werden. So erfährt man auch nicht die Gnade der Barmherzigkeit. Jesus erzählt das Gleichnis, um den Blick deutlich auf Gottes Barmherzigkeit zu lenken. Wenn ich mit Gott mein Leben bedenke, dann wird mir auch bewusst, wo meine Lebensplanung, mein Verhalten falsch ist, wo ich auch IHM gegenüber schuldig werde.
Wer schon erlebt hat, dass Verständnis und Vergebung geschenkt werden, der weiß um die ungeheuerliche Kraft und Gnade eines Neuanfangs. Wer so etwas erlebt hat, weiß, dass es möglich ist, dem Gegner mit Verständnis und Menschenfreundlichkeit entgegenzutreten. Allerdings braucht es seine Zeit, je nach Verletzung. Wir sollten uns nicht überfordern und durch vorschnelles Tun noch selbst verletzen. Vergeben und Verzeihen ist ein Tun der Seele.
Vergeben ist für mich nicht gleich Vergessen. Manche Narben lassen nicht vergessen, weil wir sie bis ans Lebensende immer wieder spüren. Diese Erinnerung ist zum einen ein Schutz, nicht mehr oder nicht so schnell wieder in die gleiche Situation zu geraten, zum anderen zeigt sie uns, wie sehr wir wachsen konnten. Und das ist gut! Zu sehen, dass und wie wir an Dunklem und Schwerem reifen konnten, macht dankbar. Es hilft uns, andere weniger zu beurteilen und zu verurteilen. Es zeigt uns, dass wir fähig zur Liebe sind. Es zeigt uns, wie glücklich wir uns nennen können, an einen Gott glauben zu dürfen, der uns in Barmherzigkeit entgegenkommt, gerade wenn wir durch egoistisches Verhalten ins Dunkle verstrickt waren: Gott, der wie ein Vater uns zärtlich liebend trotz allem immer wieder in die Arme schließt. Gott wie eine Mutter, die gütig und weise in ihr Verzeihen und Wiedergutmachen hineinnimmt, was wir oft nicht fertigbringen.
So kann doch alles wieder gut werden. In einer anderen Weise, als wir es oft denken oder planen. Selbst unsere Narben werden uns dann nicht hindern, uns den Mitmenschen auch in unserer Schwäche zu zeigen. So bleibt am Ende dann doch das wirkliche Leben. Übrigens: Das Sakrament der Vergebung, die Beichte, ist eine gute Hilfe, das Leben aus der vergebenden Liebe Gottes zu erfahren. Haben Sie daran schon mal gedacht?
Seien Sie gesegnet und behütet! Ihr P. Guido