Nimm und lies!
Predigt zum 3. Sonntag im Jahreskreis – C –
Neh 8,2-4a.5-6.8-10; 1 Kor 12,12-14.27 u. Lk 1,1-4; 4,14-21
Immer, wenn wir miteinander die Heilige Messe feiern, hören wir im Wortgottesdienst die Ankündigung: „Lesung aus dem Propheten Jesaja oder Lesung aus dem Brief des Apostels Paulus an… oder auch …aus dem Hl. Evangelium nach…“ und, so schreibt es Christian Lehnert in seinem lesenswerten Buch „Der Gott in einer Nuss“ S. 121f: „die Silben der Worte flirren durch die Luft, ihre Schatten legen sich über die Augen und Lippen, dem einen werden sie zum Trost anderen zum Urteil, sie wehen flüchtig vorbei oder sie verhärten sich zu einer Verbissenheit in einem Gesicht, sie holen Erinnerungen an die Kindheit herbei oder hallen wie Ansagen in Bahnhöfen, sie klingen scharf oder verhallen wie aus großer Ferne“.
Die Worte der Lesungen oder der Evangelien nennen wir „Heilige Schrift“, weil sie Zeugnis dafür sind, was Menschen in der Verbindung mit Gott durch ihren Glauben an ihn erlebt und erfahren haben. So verstehen wir, was es bedeuten mag, wenn Lukas am Anfang seines Evangeliums schreibt: „Schon viele haben es unternommen, einen Bericht über all das abzufassen, was sich unter uns ereignet und erfüllt hat. Dabei hielten sie sich an die Überlieferung derer, die von Anfang an Augenzeugen und Diener des Wortes waren. Nun habe auch ich mich entschlossen, nachdem ich allem von Beginn an sorgfältig nachgegangen bin, es für dich, hochverehrter Theophilus, der Reihe nach aufzuschreiben. So kannst du dich von der Zuverlässigkeit der Lehre überzeugen“ (Lk 1,1-4). Ist es nur ein „Bericht“, was da aufgeschrieben wurde? Und: Warum nennen wir die Worte „heilig“? Ganz sicher ist die Schrift „heilig“ deshalb, weil uns dann die Worte anderer Glaubender helfen wollen, selbst durch ihr Zeugnis zum „Heil“ und zu dem, der absolut der „Heilige“ ist voranzukommen. Eine Hilfe? Ja, aber sicher noch mehr! Tatsächlich geschieht Besonderes, als Jesus selbst in der Synagoge von Nazareth sein Zeugnis mit den Menschen um ihn herum teilt, als er, wie es Lukas erzählt, die Worte des Propheten Jesaja vorliest – wir haben sie eben gehört – und dann sagt: „Heute hat sich dieses Schriftwort, das ihr eben gehört habt, erfüllt“ (Lk 4,21b). Ja, Jesus zeigt auf den Weg zu Gott und gleichzeitig geschieht viel mehr. Er zeigt auf sich und seinen Weg. Das Wort wird Weg.
„Heute“ – Jesus liest das uralte Verheißungswort des Propheten vor und holt es damit hinein in die Gegenwart der Zuhörer. Das Prophetenwort wird zum Augenblick der Wirklichkeit. Was als Verheißung für die kommende Endzeit des Handelns Gottes ausgesprochen war: JETZT ist es da und wahr. Vergangenheit und Zukunft fallen in eins. Was Jesus hier macht, ist keine Auslegung des Schriftwortes mehr, ist keine Deutung, ist keine irgendwie geartete Behauptung, die an den Zuhörern vorbeirauschen könnte – man hört Predigten und Auslegungen der Schriften ja immer wieder und erklärt sie schnell mit der Individualität des Auslegers. Das wird dem Gehörten aber nicht gerecht. Warum? So fragen wir. Weil hier Jesus aus dem Text heraus als der sichtbar wird, als der, der er von Gott her ist, als der Messias, der Erlöser. Hier wird nicht mehr „verkündigt“, vielmehr wird Wirklichkeit, was vom Propheten Jesaja angekündigt war. Jesus tritt aus der Schrift als der gottgesandte Messias hervor. Er ist das Wort Gottes, das sich erfüllt. In ihm beginnt und vollendet sich, was Gott für und mit dem Menschen will.
Genau damit wird zudem deutlich, was das Zeugnis der „Heiligen Schrift“ im Kern tatsächlich ist: Sie ist nicht mehr nur Buchstabe oder Glaubensgeschichte irgendeines Geschehens. Sie ist nicht nur Bericht oder Nacherzählung. Sie ist vielmehr Weg zur unmittelbaren Begegnung mit Jesus Christus. Die Kirchenväter haben das schon immer begriffen und zu vermitteln versucht. Sie haben immer versucht, die Worte beider Testamente als eine Form der Begegnung mit Christus zu begreifen. Deshalb hat beispielsweise der Kirchenvater Hieronymus – er hat die Schriften des Alten und Neuen Testamentes in die lateinische Sprache übertragen – ganz deutlich gesagt: „Wer die Schrift nicht kennt, kennt Jesus Christus nicht!“
Kein Wunder, dass die Päpste bis hin zum Jetzigen immer wieder von der Notwendigkeit der „Neu-Evangelisierung“ geschrieben und gesprochen haben. Ich denke es ist leider war: Viele Christen sind in Bezug auf die Bibel „Analphabeten“. Man hat die Bibel zwar im Bücherschrank stehen, aber mehr als drei bis vier Zentimeter Raum in der Reihe der anderen Bücher nimmt sie nicht ein. Dabei muss die Heilige Schrift Raum in unseren Herzen und Raum in unserem Denken haben. „Wer die Schrift nicht kennt, kennt Jesus Christus nicht!“ Alle großen Aufbrüche in den Kirchen und im Glauben der Christen sind verbunden mit einer Neuentdeckung der Evangelien und aller anderen Schriften der Bibel. Die „Heilige Schrift“ führt Christus und uns zusammen. Eine sehr hilfreiche Anleitung für diese (Schrift)Begegnung wird dem Kartäusermönch Guigo II. (+1193) zugeschrieben. Im zwölften Jahrhundert (um 1150) hat er eine Schrift namens „Scala claustralium“ („Leiter der Mönche [zu Gott]“) verfasst, die in Briefform systematisch die „lectio divina“ (göttliche Lesung) als Weg zu Gott darstellt. Dabei nennt er als Stufen das aufmerksame Lesen (lectio) des Bibeltextes (möglichst nicht mehr als zehn Verse), dann die Meditation des Gelesenen (meditatio), wobei man nach persönlicher Betroffenheit einen Vers auswählt und die Worte langsam und bewusst am besten laut ausspricht und sie so gewissermaßen verkostet. Aus dieser Betrachtung wird mit dem so Gelesenen und innerlich Gehörten das Gebet (oratio), das dann in das stille Verweilen vor Gott führt (contemplatio). Was hier für den persönlichen Weg der Begegnung mit dem Wort aufgezeigt ist, kann natürlich auch in der Gemeinschaft miteinander eingeübt und praktiziert werden.
Auch Heute, auch jetzt und hier öffnet sich im Wort des Evangeliums, im Wort der Heiligen Schrift Gottes Raum der Liebe. Heute erfüllt sich in Jesus das Prophetenwort des Jesaja, insofern wir, jeder und jede von uns mit Jesus Christus verbunden, mit ihm, unserer Berufung entsprechend, mitbauen an der Welt Gottes, an seinem Reich. „Nimm und lies!“ so sagt Gottes Geist zum hl. Augustinus auf seinem Weg der Suche nach Gott. Und er fand ihn und bekehrte sich zum lebendigen Gott.
Seien Sie gesegnet und behütet im Wort, das Mensch wurde in Jesus Christus!
Ihr P. Guido