Nicht nur mit den Augen, sondern mit dem Herzen
Predigt zum 4. Fastensonntag – A – Eph 5,8-14 und Joh 9,1.6-9.13-17.34-38 (Kurzfassung)
Keiner, der sehen kann, vermag sich in einen Blindgeborenen hineinzuversetzen und nachzuempfinden, wie diesem zumute ist, wie groß seine Sehnsucht, einmal die Schönheit der Natur oder das Gesicht eines Menschen zu sehen. Diese Sehnsucht setzt Jesus im heutigen Evangelium offenbar voraus. Denn der Blinde bittet nicht, er fragt nicht; der Herr heilt ihn einfach. „Das ist doch selbstverständlich“, denken wir, „dass ein Blinder sehen will!“ Aber ist es das wirklich?
Der Schriftsteller Max Frisch (1911-1991) erzählt in seinem Roman „Mein Name sei Gantenbein“ von einem Mann, der zwar sehen kann, aber nicht mehr sehen will. Er ist überzeugt, es sei viel zweckmäßiger, blind zu sein oder doch so zu tun. Daher legt er sich eine Blindenbrille zu, einen weißen Leuchtstock, eine gelbe Armbinde mit schwarzen Punkten und einen Blindenhund. Nun ist nichts mehr wie vorher. Was er nicht sehen will, sieht er nicht. Zu dem, was um ihn herum geschieht, braucht er keine Stellung zu beziehen. Konflikten kann er aus dem Weg gehen; er sieht sie ja nicht. Als vermeintlich „Blinder“ lebt er unangefochten. Endlich hat er seine Ruhe.
Dem Blinden im Evangelium ergeht es anders. Als er auf einmal sehen kann, findet er sich in einer Welt voller Misstrauen, Intrigen und Verhören vor. Seine Heilung hat sogar zur Folge, dass ihn die Pharisäer aus der Synagoge ausstoßen, „exkommunizieren“ (vgl. Joh 9,34). Die Welt erweist sich so ganz anders, als er sie in seinen Träumen geschaut haben mag.
Selbstverständlich: Das vielfältige, immer großartige Schauspiel der Natur, ein gutes Buch, das ich lesen und ein freundliches Gesicht, in das ich sehen kann und das mich auch ansieht - all das ist faszinierend, und keiner möchte es ernsthaft missen. Doch es gibt auch die Unruhe und die schlaflosen Nächte. Es gibt die Not in der Welt, Menschen im Krieg und Terror, Katastrophen, die Zerstörung der Natur, der Verlust vieler Tier- und Pflanzenarten, und viele Probleme mehr. Da könnte uns - ähnlich wie Gantenbein im Roman - die Versuchung überkommen, vor allzu vielen Unannehmlichkeiten die Augen zu schließen. Dann hätten auch wir unsere Ruhe. Dass ich sehen, wirklich sehen kann, d. h. nicht nur mit den Augen, sondern mit dem Herzen, bedeutet doch, dass ich etwas wahrnehme, das mich betroffen macht und dass ich es an mich heran und auch in mein Leben lasse.
Inwieweit sehen wir also die Beschwernisse und Sorgen derer, die uns aufgegeben sind, und lassen sie in unser Herz? Es gibt Abwehrmechanismen, die es zu durchschauen gilt. Mit ihrer Hilfe halten wir uns bewusst oder unbewusst vom Leib und aus dem Blick, was uns zu sehr beunruhigen könnte. Verdrängung, manchmal nennen wir sie Vergesslichkeit, zum Beispiel! Das ist auch eine Art von Blindheit. Wegen der Fülle von Bildern und der Flut von Informationen behalten wir vieles, keinesfalls nur Unwichtiges, nicht lange genug im Gedächtnis, schieben es aus dem Bewusstsein weg. Oder die Gewöhnung, die Resignation, die uns müde machen und daran hindern kann, auch einmal in die andere Richtung zu schauen.
Öfter berichten die Evangelisten: „Als Jesus die vielen Menschen sah, hatte er Mitleid mit ihnen“ (vgl. Mt 9,36; 14,14, 15,32; Mk 1,41; 6,34; 8,2; Lk 7,13, 15,20). Er hat Mitleid mit den Menschen, weil er ihre Nöte sieht. In seiner Nachfolge sind auch wir aufgefordert, die Not unserer Mitmenschen zu sehen und uns um siezu bemühen und nicht etwa zu sagen: „Mein Name sei Gantenbein.“ (Übrigens hat Max Frisch die Anregung zu seinem Roman von einer Aussage des Heidelberger Studenten Viktor Hase vor dem dortigen Universitätsgericht (1855): „Mein Name ist Hase, ich weiß von nichts.“ Vgl. Röhrich: Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten, Band 2, S. 671). Diesen Gantenbein umgibt das abgeschirmte Licht seiner selbstverordneten Blindenbrille. Durch sie erscheint ihm alles ohne Ecken und Kanten. Dem aber, der wirklich sehen will, wird das grelle Licht der Tatsachen und der schlimmen Gegebenheiten bisweilen die Tränen in die Augen treiben. Damit wird aber klar: Es geht gar nicht um das Sehen-können; es geht vielmehr in einem tieferen Sinn um das Sehen-wollen.
Mancher oder manche mögen hier widersprechen: „Soll ich mir denn durch das rechte Sehen das Leben vermiesen lassen? Darf ich mir dann gar nichts mehr gönnen!“ Das aber wäre die falsche Konsequenz. Denn wenn auch das rechte Sehen mit all seinen Folgen zu unserem Christsein gehört, und zwar ganz wesentlich, so darf es uns den Blick auf die Fülle des Lebens nicht versperren. Dazu gehört, dass wir feiern und uns beschenken, dass wir uns erholen und richtig Freude am Leben haben. Wer nur mit Tränen in den Augen sieht, sieht alles wie durch einen Schleier. Das kann es nicht sein! Lebensfreude wecken kann aber nur, wer sie selbst hat. Und nur wer sich selbst freuen kann, vermag auch zu teilen und andere zu beschenken.
Sich von Jesus die Augen öffnen zu lassen, um zu sehen, wie er sieht, heißt, sich auf alles einzulassen, was uns vor unser inneres Auge kommt. Auch Jesus hat sie gesehen: die Kranken, die Blinden und Lahmen, die Verachteten, die Zöllner und Sünder. In der Begegnung mit ihm ist ihnen Heilung und Heil geworden. Und er ist der Einladung zu einer Hochzeit gefolgt (vgl. Joh 2). Da gibt es das noch Wort: „Können denn die Hochzeitsgäste fasten, solange der Bräutigam bei ihnen ist? Solange der Bräutigam bei ihnen ist, können sie nicht fasten“ (Mk 2,19). Wer das Geschenk seines Lebens aus frohem Herzen annimmt, dem wird es auch gelingen, andere froh zu machen. Sehen heißt also, das rechte Augenmaß im Sinne des Evangeliums, der frohen Botschaft von der Nähe und Liebe Gottes zu allen Menschen zu finden.
Die Geschichte vom Blindgeborenen zeigt seinen Werdegang: Von einem, an dem gehandelt wird und über den man verhandelt, wird er zu einem, der wieder sieht, dadurch frei wird und nun selbst handelt. Jesus hat dem Blindgeborenen ja nicht nur die leiblichen Augen, sondern auch die Augen des Herzens zum Abenteuer des Glaubens geöffnet. Der Evangelist Johannes schreibt am Ende unseres Textes: „Als Jesus ihn (den Sehendgewordenen) traf, sagte er zu ihm: Glaubst du an den Menschensohn? Der Mann antwortete: Wer ist das Herr? Sag es mir, damit ich an ihn glaube. Jesus sagte zu ihm: Du siehst ihn vor dir; er, der mit dir redet, ist es. Er aber sagte: Ich glaube, Herr! Und er warf sich vor ihm nieder“ (Joh 9,35-38).
Ihnen weiterhin eine gesegnete Fastenzeit und bleiben Sie behütet! Ihr P. Guido