Neben Jesus die ersten Plätze...
Predigt zum 29. Sonntag im Jahreskreis – Jes 53,10-11 und Mk 10,35-45
Nein, nein! Vertun wir uns nicht! Die beiden Donnersöhne, Johannes und Jakobus, sie streben nicht vordergründig nach irdischer Macht. Sie wollen die Zusage, dass sie am Ende auf dem himmlischen Triptychon direkt neben Jesus abgebildet werden, also neben Jesus die ersten Plätze haben. Sie wissen nicht, was das für ihren Weg bedeutet. Und Jesus holt sie in die Realität zurück, in die Realität des Glaubensweges, der immer ein Weg des Zeugnisses für Gott ist, des Zeugnisses, das auch Leiden und Kreuz bedeutet, Verzicht auf Einfluss und Macht, weil es nicht um die Position oder die speziellen Sitzplätze gehen kann, sondern um Gott und seine Botschaft, um das Heil aller Menschen.
Ja, es geht um den Glaubensweg, den Weg Jesu, den Weg der beiden DonnersöhneJakobus und Johannes und um den Weg der Jüngergemeinschaft, also um den Weg der Kirche. Offensichtlich gab es auch in der Gemeinde des Markus welche, die allzu sehr nach einer besonderen Stellung und – wie sie meinten – höheren Plätzen in der Gemeinde strebten. Sie ließen wohl die völlig anderen Anforderungen des Weges in der Nachfolge Jesu außer Acht.
Ihnen und damit uns wird nun eine Lehrstunde zuteil. „Bei euch soll es nicht sein wie bei den Mächtigen dieser Welt. Ihr seid Diener Gottes und der Menschen“, so können wir es frei nach Markus und dem Evangelium formulieren (vgl. Mk 10,42-45).
Wer nur sich und seine Wünsche im Blick hat, der verliert den Blick auf die Mitmenschen und folgerichtig auch den Blick auf Gott.
In einer rabbinischen Geschichte, Martin Buber hat sie gesammelt und überliefert, wird erzählt, dass da welche ihren Rabbi fragten, warum früher die Menschen Gott von Angesicht sehen, und ihm begegnen konnten, heute das aber nicht mehr so sei. Und der Rabbi antwortete: Weil keiner mehr bereit ist sich tief genug zu bücken. Jesus stiftet eine neue Gemeinschaft, in der die Beziehung zu Gott, seinem und aller Vater, eine befriedete Gemeinschaft unter den Menschen herstellt. Er tut dies, indem er konsequent den Weg des Dienens und der Annahme jedes Einzelnen geht. Diese Gemeinschaft darzustellen, ja, sie zu sein, ist der göttliche Auftrag der Kirche. Dazu ist sie da, dass sie in geschwisterlichem Miteinander den Willen Gottes zu leben sucht, der keinerlei Herrschaft der einen über die anderen will.
Allerdings ist die Kirche wie auch – so haben wir es im Evangelium erfahren – die Jüngergemeinschaft auf dem irdischen Weg angefochten und der Sünde ausgesetzt, will sagen Gottes Werk und Menschen Werk stehen einander oft genug gegenüber und sind im Streit. Wenn wir in die Geschichte der Kirche schauen, wird das überdeutlich: Von Anfang an ging es um die Frage, wer welchen Einfluss hat und wer welche Macht. Wenn wir beispielsweise nach Korinth schauen, wissen wir, dass es dort so war wie überall, mit Machtkämpfen zwischen den Gruppierungen von Apollos, Paulus, Petrus ... und nicht nur die Geschichte der Päpste, die ganze Geschichte der Kirche ist voll von negativen Beispielen des Machtdünkels und des Ringens um Einfluss. Wo, so müssen wir bis heute fragen, wird das Wort Jesu vom herrschaftsfreien Dienst der Liebe gelebt? Frei von oben und unten, frei von Druck, mit ganzem Herzen, in einer Gemeinschaft von Schwestern und Brüdern, so eben, wie es nach dem Wort Jesu „bei uns sein soll“? Ist das denn nur eine Idealbeschreibung, die wir in unserer menschlichen Gebrochenheit ja doch nicht erreichen können?
Gott sei Dank gibt auch die andere Erfahrung. Durch die Kraft des Heiligen Geistes sucht sich der ursprüngliche Anspruch des Evangeliums immer wieder seinen Weg. Anders ist beispielsweise die Geschichte der Orden und der geistlichen Bewegungen nicht zu verstehen: Der Mönchsvater Benedikt kehrt dem Macht-Sumpf des spätantiken Roms den Rücken, geht in die Einsamkeit und dann befruchtet er das gemeinsame Leben der Mönche mit dem Geist seiner Regel. Die Zisterzienser verzichten bewusst auf weltliche Macht und auf Prunk; ihre Gründer Abt Robert von Molesmes, Abt Alberich und Abt Stephan Harding lassen die Regel Benedikts und die Einfachheit des Lebens nach dem Evangelium neu erstehen. Franz von Assisi wendet sich gegen die reich und mächtig gewordene Kirche und gleichzeitig predigen der heilige Dominikus und die Seinen gegen die geistige Verwahrlosung an. In unserer Zeit ging Charles de Foucauld in die Wüste und lebte unter Muslimen die Machtlosigkeit des Dienens und der Liebe. Immer wieder taucht die Sehnsucht nach einem Leben in dieser Radikalität auf. Immer wieder wird das Wort "klein" oder "gering" ganz großgeschrieben. „Minderbrüder“ nennen sich die Brüder des heiligen Franziskus, und der heilige Ignatius von Loyola will seine Gründung die „geringste Gesellschaft Jesu“ nennen. „Kleine Schwestern" und „Kleine Brüder" heißen die Gefährtinnen und Gefährten in der Tradition des Charles de Foucauld, „Missionarinnen der Nächstenliebe“ die Schwestern der Mutter Theresa von Kalkutta.
Auch heute steht das Wort und der Anspruch Jesu vor uns: „Wer bei euch groß sein will, der soll euer Diener sein.“ Das Beispiel Jesu, der sein Leben als Lösegeld für uns gegeben hat, gilt nicht nur denen da oben oder irgendwelchen anderen. Es gilt für jeden von uns, für unser Leben und für unseren Alltag. Es sagt: Nehmt nicht die Maßstäbe dieser Welt in Politik, Bürokratie oder Management zum Muster für euer Verhalten, schaut nicht auf euer Prestige, richtet eure Augen viel mehr auf das Wunder der Liebe und Nähe Gottes für jeden. Jesus will zeigen, dass die göttliche Lebensbewegung wie ein Sturm mitten in den Alltag hineinfährt und er will die Quelle zugänglich machen, aus der alle Menschen leben können. Glaubwürdig als Christen, als Kirche sind wir nur dann, wenn wir das Licht Jesu nicht durch unsere kleinlichen Wünsche verdecken. Wir dürfen nicht zum Grab der Mittelmäßigkeit werden, in dem das Wunder Gottes verrottet. Tief genug bücken müssen wir uns, damit wir selbst und unsere Welt die Sache Gottes, ja, ihn selbst zu sehen bekommen. Ich denke, es ist ein dringender Ruf zur Umkehr, dass unsere Kirche heute durch das verbrecherische Fehlverhalten mancher sich neu finden muss. Die Frage nach der Glaubwürdigkeit des Zeugnisses fängt allerdings bei jedem von uns an. Und sie bleibt bis zum Ende…
Suchen wir nach dem Wunder der Liebe und Nähe unseres Gottes! Ihr P. Guido