Predigt zum 6. Sonntag im Jahreskreis – C – Jer 17,5-8; 1 Kor 15,12.16-20 u. Lk 6,17.20-26
Erinnern wir uns: Wir sprachen davon, dass Lukas bei der Abfassung seines Evangeliums einen besonderen Blick hat. Seine Perspektive auf die Geschichte Jesu ist meist anders als der Blick der anderen Evangelisten. Schaut Markus auf den WEG Jesu, deshalb nennt er immer wieder bestimmte Wegstrecken (vgl. Mk 1,14.16.21.39; 2,1.13; 3,1;4,1 u.v.a.), so ist es Matthäus, der immer wieder die Verbindung zu Propheten und anderen Begebenheiten der alttestamentlichen Schriften herstellt (vgl. z.B. Mt 1,23 = Jes 7,14; Mt 2,15 – Hos 11,1; Mt 2,18 = Jer 31,15 u.v.a), um gewissermaßen in klassischer Form die Inhalte der Botschaft Jesu als prophetisch, priesterliche Weisungen zu vermitteln. Der Evangelist Johannes hat zudem seine eigene Sichtweise als der „Lieblingsjünger“ Jesu in der Weitergabe des Geschehens. Wenn wir also das Johannesevangelium lesen oder hören, dann blicken wir mit seinen Augen auf Jesus.
Lukas nun erzählt von Jesus als dem, der mitten unter den Menschen und ihnen im alltäglichen Leben ganz nahe sein will. Unsere Perikope heute macht das besonders deutlich. Nach dem reichen Fischfang und der Berufung der Jünger als „Menschenfischer“ (Lk 5,1-11) zeichnet Lukas die Gestalt Jesu als den, der aus der innigen Gemeinschaft mit dem Vater kommt (Lk 5,16) sich den Hilflosen („Heilung eines Aussätzigen“ Lk 5,12-15 – „Heilung eines Gelähmten“ Lk 5,17-26) und den Ausgeschlossenen („Mahl der Zöllner“ Lk 5,27-32) zuwendet: „Nicht die Gesunden bedürfen des Arztes, sondern die Kranken“ (Lk 5,31). Zudem wird die „Vollmacht“ Jesu deutlich im Wort über das Fasten und über das Gesetz (Vgl. Lk 5,33-6,11). Dann, so schreibt Lukas, beruft Jesus die ZWÖLF Jünger auf einem Berg (Lk 6,12-16) und geht herab vom Berg, um in der Ebene zu heilen und sein „Grundsatzprogramm“ zu verkünden (Lk 6,17-26). Das ist der Perspektivwechsel des Lukas. Jesus bleibt nicht auf „dem Berg“, was so viel bedeutet wie „in der Nähe und im absoluten Anspruch Gottes“, denn dafür steht in den biblischen Schriften das Symbol des Berges. Übrigens nutzt Matthäus genau dieses Bild bei seiner „Bergpredigt“ (Mt 5,1-12). Jesus aber geht mit den ZWÖLF hinab in die Ebene des Alltags. Dort, mitten unter den Menschen ist sein Ort und ebenso – das ist wieder Hinweis des Lukas – der Ort der Gemeinde, der Kirche, dafür stehen ja die ZWÖLF.
Dann heißt es bei Lukas: „Jesus richtet seine Augen auf seine Jünger“ (vgl. Lk 6,20). „Seine Jünger“, das ist die große Schar, die zuhört, das sind die ZWÖLF ebenso wie die Menschen, die sich seinem Wort öffnen. Er sieht sie, er sieht ihr Leben, er sieht Menschen, denen es an Nahrung fehlt. Anderen fehlt es am Glück des Lebens. Jesus sieht ihr Weinen und bemerkt ihre Traurigkeit. Jesus sieht Menschen, die nur Hass erleben und denen es an Gemeinschaft fehlt. Jesus erkennt auch, dass viele seiner Anhänger wegen ihrer Offenheit für sein Wort verachtet werden und unter der religiösen Intoleranz der anderen um seinetwillen leiden.
Alle diese Menschen nennt er „selig“ und verheißt Gottes besondere Zuwendung.
Und dann: Mit den „Wehe-Rufen“ (Lk 6,24-26) Jesu über die Reichen, die Satten, die vorgeblich Glücklichen und Erfolgreichen wird ein knallharter Kontrast aufgezeigt, den wir übrigens in der Bergpredigt des Evangelisten Matthäus nicht finden (vgl. Mt 5,3-12). Die „Selig-preisungen“ und die „Wehe-Rufe“ stehen in hartem Gegensatz zueinander. Den einen fehlt Lebenswichtiges, deshalb können sie offen sein und voller Sehnsucht und in der Erwartung leben. Die anderen glauben alles zu haben, was sie vom Leben erwarten können, und so sind sie auf sich zurückgeworfen und verschlossen für das, was möglicherweise über sie hinausreicht. Die einen leben in der Erwartung von positiver Veränderung. Den anderen bleibt nur die fatale Angst zu verlieren. Und sie werden irre in ihrer Angst. „Weh euch“, sagt Jesus.
Was uns Jesus in den Seligpreisungen vor Augen führt, bedeutet: Schau auf die Offenheit und Sehnsucht deines Herzens. Wenn du so die Augen öffnest für das Leben und für das, was über den eigenen Horizont hinausgeht, dann kannst du trotz deiner Not erfahren, dass andere sich dir zuwenden, dann kannst du trotzdem solidarisch sein mit denen, die ebenfalls Not leiden, dann kannst du trotz deiner Bedrängnis in dir durch anderer Menschen Liebe entzünden lassen, dann kannst du trotz eigener Bedrängnis andere lieben. Ja, du kannst trotz der eigenen Trauer in anderen Trauernden Hoffnung wecken. Du kannst trotz eigenen Leidens spüren, dass das eigene Vertrauen auf Vertrauensvolles wartet, denn du spürst die Sehnsucht in dir. Du kannst trotz großer Sorgen erleben, dass in dir selbst ein Lebenswille und eine geheimnisvolle Lebenskraft stecken. Und all das ist Teil dessen, was Gott für und mit den Menschen will. Deshalb sagt Jesus: „Selig bist du!“
Lassen Sie mich mit einem – wie ich denke – starken Beispiel für das Gesagte abschließen.
Vor einem Jahr kam Alexej Nawalny, der russische Politiker und Dissident, unter seltsamen Umständen in einem Straflager im hohen Norden Russlands zu Tode. Im Oktober letzten Jahres wurde von seiner Frau Julia seine Autobiographie veröffentlicht. Am Ende seiner Erinnerungen schrieb er, der frühere Atheist, der erst mit der Geburt seines ersten Kindes zum Christentum gefunden hat, noch im Straflager kurz vor seinem Tod: „Meine Aufgabe ist es, das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit zu suchen. Um alles andere kümmert sich der alte Jesus und seine Verwandtschaft. Sie werden dich nicht im Stich lassen und alle deine kleinen Probleme lösen. Sie werden, wie es hier im Gefängnis heißt, für dich die Schläge einstecken.“ (Alexej Nawalny, Patriot, S. Fischer-Verlag, 2024, S. 540.)
Ich denke, Alexej Nawalny hat, wie viele andere Jüngerinnen und Jünger Jesu durch die Geschichte hindurch, verstanden, was im Leben wirklich zählt: Vertrauen, Zuwendung, Hoffnung, Liebe, Sehnsucht nach der größeren Gerechtigkeit, letztlich Gott allein. Nur so kann man angstfrei selbst im Angesicht des Todes den Mut finden, sich einzusetzen für das, was Gottes ist und damit, denn er ist die Liebe, für die Menschen. So und nur so wächst mitten unter uns, mitten im Alltag menschlichen Lebens Gottes Reich mit uns und durch uns auf dem Weg Jesu. Jesus öffnet den Horizont des Lebens in die Weite und Liebe Gottes.
„Selig ihr Armen, denn euch gehört das Reich Gottes“ (Lk 6,20b).
Seien Sie gesegnet und behütet!
Ihr P. Guido