Predigt zum 8. Sonntag im Jahreskreis – C – Sir 27,4-7(5-8); 1 Kor 15,54-58 u. Lk 6,39-45
Vom Kirchenvater Hieronymus stammt das Wort: „Wer die Schrift nicht kennt, kennt Christus nicht“. Wer also die Evangelien durchforscht, liest, studiert und meditiert, kommt Jesus nahe.
Jesus liebte eine bildhafte Redeweise mit manchmal humorvollen und teilweise grotesken Vergleichen. Denken wir etwa an den Vorwurf, den er einmal gegen die Pharisäer erhob, um heuchlerisches Verhalten zu brandmarken: „Ihr siebt Mücken aus und verschluckt Kamele“ (Mt 23,24). Oder an sein noch bekannteres Wort: „Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in das Reich Gottes gelangt“ (Mt 19.24). Solche Worte zeugen von Humor. Man hört sie mit Schmunzeln. Sie prägen sich ein. Sie sagen etwas über Jesus und sie können auch uns die Augen öffnen. Sie können Hilfe bei einer Selbstbetrachtung sein. Sie sind übrigens wie die ganze Botschaft Jesu immer im Zusammenhang mit seinen Worten von der Nähe und Liebe Gottes zu sehen. Ihr Ziel ist der Mensch, den Jesus zur rechten Gotteserkenntnis und damit zum Vater führen will. Deshalb finden wir solche Jesusworte auch im Rahmen der lukanischen „Feldrede“ (bei Matthäus „Bergpredigt“) wie in einer Art Anleitung zu einem gelingenden Leben. So erinnern sie an biblische Weisheitsworte als Lebenshilfe, wie wir sie auch in der heutigen Lesung aus dem Weisheitsbuch des Jesus Sirach gehört haben.
In die Reihe solcher besonderer Bildworte gehört auch das Bildwort vom „Splitter und Balken“ (Lk 6,41-42). Dass jemand bei der täglichen Arbeit einen kleinen Fremdkörper (einen „Splitter“) ins Auge bekommt, passiert nun mal. Jesus kannte solche Unfälle, schließlich war sein Ziehvater Josef Zimmermann und da erlebt man das. Aber dass jemand gleich einen ganzen Balken im Auge herumträgt, das ist eine Übertreibung, die in ihrer Überzeichnung dennoch betroffen macht.
Schauen wir auf das, was Jesus deutlich machen will und der Evangelist Lukas gleichzeitig als Hilfe nicht nur für Einzelne sieht, sondern auch der Gemeinde der Christen vorlegt.
Unser Evangelium setzt ein mit der rhetorischen Frage: „Kann etwa ein Blinder einen Blinden führen? Werden nicht beide in eine Grube fallen?" (Lk 6,39) – Wem gilt dieses Wort und auch die anderen, die sich anschließen? Ich denke, wir müssen es unmittelbar auf uns beziehen, denn „Jesus richtete seine Augen auf seine Jünger“, wie es zuvor hieß (vgl. Lk 6,20) und er sagte auch: „Euch, die ihr zuhört, sage ich…“ (Lk 6,27). Es ist uns nicht fremd, was Jesus anspricht: Nicht nur in kirchlichen Gemeinden gibt es Menschen, die immer alles besser wissen und sich berufen fühlen, anderen Vorschriften zu machen. Die gibt es auch im Familien- und Freundeskreis und auch am Arbeitsplatz und wer weiß, wo sonst noch. Man kann schon bezweifeln, ob solche selbsternannten Wegweiser tatsächlich den nötigen „Durchblick“ haben. Kennen sie den Weg, den sie andere führen wollen? Was ist ihr Motiv?
Im Sinne einer Selbstreflexion mit dem Wort vom „blinden Blindenführer“ spricht Jesus direkt zu uns: „Du“, so könnten wir uns seine Worte zu eigen machen, „du fühlst dich berufen, dich um die Besserung deiner Mitmenschen zu bemühen. Du hast tatsächlich einen scharfen Blick für die kleinsten Unarten und Schwächen deiner Nächsten und bietest dich an, ihnen bei der Überwindung ihrer Fehler zu helfen. Deine psychologischen Erklärungen und deine pädago-gischen Vorschläge sind klar. Trotzdem bist du ein „blinder Blindenführer“, genauer gesagt: Du bist in der großen Gefahr, trotz deiner Wahrnehmung blind in Bezug auf dich selbst zu sein. Deine Fähigkeit zur „Fremdkritik“ ist hoch entwickelt. Wie aber sieht deine Fähigkeit zur „Selbstkritik“ aus? Schaue und höre einmal genauer hin! Es könnte doch sein, dass du dich täuschst und die anderen dich nüchterner sehen und deine eigenen Fehlhaltungen wahrnehmen, vor denen du leider konsequent deine Augen verschließt. Dann hast du wahrscheinlich in ihrem Urteil auch deine „Macken“. Und deine Bemühungen, die du deiner Mitwelt präsentierst, wirken letztlich überzogen und lächerlich. Höre also zunächst einmal auf, die anderen verbessern zu wollen. Beschäftige dich doch bitte zuerst mit dir selbst. Schaffe Ordnung im eigenen Haus und kehre gründlich vor der eigenen Tür. Du wirst staunen über die Menge an Unrat, auf die du dabei stößt. Wenn du dann nach getaner Arbeit noch Zeit und Energie übrighast, dann magst du dich wieder deinen Mitmenschen zuwenden!“ Nun, ja!
Bleiben wir doch in der Sprache der jesuanischen Bildworte: Da mag es angebracht sein, im Sinne der Selbsterkenntnis zuerst damit klarzukommen, dass man vielleicht selbst wie eine Distel oder Dornstrauch ist. Die haben zwar keine Trauben oder Feigen als Früchte (vgl. Lk 6,44). Aber auch wenn ihre Nützlichkeit eingeschränkt scheint, haben sie dennoch einen ureigenen Sinn und auch Charakter. An der richtigen Stelle eingepflanzt, haben auch sie ihre Aufgabe und eine besondere Schönheit. Manchmal sind zuerst Bescheidenheit und der rechte Blick auf sich selbst also mehr als sinnvoll!
Wenn Jesus gerne solche Wortbilder gebraucht hat, um seinen Hörern und Hörerinnen bestimmte Wahrheiten nahezubringen und einzuprägen, dann wollen sie vor allem Hilfe sein. Sie sind eine gute Hilfe zur Erforschung des eigenen Gewissens und Verhaltens. Den rechten Maßstab hat Jesus ja genannt: „Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist!“ (Lk 6,36). Es ist daher sicher sinnvoll, bei jedem aufsteigenden Wunsch nach „Fremdkritik“ zunächst einmal auf „Selbstkritik“ umzuschalten und die Frage zuzulassen: „Ist dieser Splitter im Auge meines Bruders oder meiner Schwester nicht ein sehr verkleinertes Spiegelbild eines Balkens, den ich selbst im Auge trage?“ Zueinander zu stehen und echte Hilfe füreinander beginnt mit der Erkenntnis der eigenen Bedürftigkeit und Schwäche.
„Wovon das Herz überfließt“, sagt Jesus, „davon spricht sein Mund“ (Lk 6,45c).
Im Sonntags-Schott zum Lesejahr C (Herder-Verl. 2018, S.482) findet sich ein kleines Gebet, das ich hier gerne wiedergeben möchte:
„Herr, ich will dich bitten, dass du nie aufhörst mir die Wahrheit über mich zu zeigen, auch wenn es wehtut. Ich will kein Mensch sein, der nur die Fehler der anderen sieht. Ich lebe selber nur von deiner Vergebung und darum will ich auch für meine Schwestern und Brüder eine Quelle deiner Vergebung sein. Erfülle mein Herz mit deiner Güte und Milde, damit mein Mund davon überquillt. Amen“
Seid in der Liebe Gottes gesegnet und bleibt behütet!
Ihr P. Guido