Predigt zum 12. Sonntag im Jahreskreis (A) – Mt 10,26 – 33
Rede und Meinungsfreiheit sind in unserer Gesellschaft weitgehend garantiert. Sie gehören zu den im Grundgesetz festgeschriebenen Grundrechten. Wir riskieren also keineswegs Leib und Leben, wenn wir für unsere Überzeugung eintreten. Der Diskurs unterschiedlicher Ansichten ist ein Grundbaustein der freiheitlichen Demokratie. Dennoch gibt es so etwas wie Menschenfurcht, die daran hindern kann, frei zu den eigenen Überzeugungen zu stehen. Angst vor dem Verlust von Zuwendung, Versagensangst, Zukunftsangst, Angst vor Mobbing, Angst vor dem Verlieren des Arbeitsplatzes… Vieles von dem, was Menschen tun oder lassen, geschieht, um den Erwartungen der Mitmenschen zu entsprechen. Meist ist dabei mehr eine grundlegende Menschenfurcht im Spiel als das Verlangen, durch sein eigenes Tun und Handeln den anderen eine Freude zu machen. Es gehört auch zu unserer Wahrnehmung, dass überall dort, wo das Autoritätsgefälle groß ist oder als viel größer vermutet wird, ein freimütiger Dialog aus Menschenfurcht nicht zustande kommt.
Das heutige Evangelium stellt der Menschenfurcht die Gottesfurcht entgegen.
Gottesfurcht. Was bedeutet dieser Begriff? Muss ich vor Gott Angst haben? Interessanterweise kennt die biblische Sprache, die ja vom hebräischen Sprachgefühl und aus dieser Kultur herkommt, für den Umgang des Menschen mit Gott vor allem eine Umschreibung: Man muss Gott fürchten. Gemeint ist damit allerdings keine falsche Unterwürfigkeit, keine kriecherische oder Demut heuchelnde Sprache oder ebensolches Verhalten, sondern die Haltung, Gott ehrend und seiner Würde entsprechend zu begegnen. Wenn also von Gottesfurcht die Rede ist, dann bezieht sich das unmittelbar auf die Begegnung mit Gott, der dem Menschen seinen Bund, seine Nähe und immer seine Hilfe und seinen Beistand zugesagt hat. So heißt es beim Propheten Jesaja im Blick auf Gottes Bundespartner Israel: „Bis ins Alter bin ich derselbe, / bis zum grauen Haar werde ich schleppen. Ich habe es getan / und ich werde tragen, / ich werde schleppen und retten.“ (Jes 46,4). Wir dürfen also wissen, dass jeder Mensch vor dem heiligen Gott unendlich wertvoll ist. Er kümmert sich um jeden einzelnen. Er kennt unsere Sorgen und Nöte. Es ist wunderbar, wie Jesus das in seiner Bildsprache ausdrückt: So wie Gott jeden Spatz wahrnimmt, der zu Boden fällt, so wie er jedes Haar auf unserem Kopf gezählt hat, so umgibt er jeden von uns mit seiner Fürsorge und Liebe. Er hält seine Hand über uns. Und es gibt keine Macht im Himmel und auf Erden, die uns dieser schützenden und leitenden Hand entreißen könnte.
Gottesfurcht ermöglicht also den aufrechten Gang, weil Gott selbst es ist, der uns den Rücken stärkt. Deshalb ermutigt Jesus die Jünger und sagt ihnen, dass sie sich nicht vor jenen fürchten brauchen, die zwar „den Leib töten, die Seele aber nicht töten können“ (vgl. Mt 10,28). Es geht hier keineswegs um eine philosophisch dualistische Sichtweise, die den Menschen auftrennt in zwei Teile, also in Leib und Seele. „Seele“ meint im Verständnis der Bibel den ganzen Menschen in seinem innersten und unverwechselbaren und einmaligen Wesen. „Seele“ ist der Mensch, wie er vor Gott ist und von ihm angesehen wird. Diesen Wesenskern kann niemand vernichten. Auch wir selbst können das nicht. Wir können uns nur von ihm entfernen, uns von ihm entfremden und so uns selbst fremd werden. Wo Menschen ihre „Seele“ wichtig ist und wo sie sich von Gott angesehen, geliebt und getragen wissen, dort müssen sie sich nicht vor menschlichen Autoritäten fürchten. Irdische Autoritäten sind zweitrangig. Sie können nur vordergründig nützen oder schaden.
Das heißt: Gottesfurcht – die Geborgenheit in Gott – vertreibt die Menschenfurcht.
„Fürchtet euch nicht!“ Einhundertsechsmal kommt dieses Wort in den Hl. Schriften des Alten und Neuen Testamentes vor. Dreimal im heutigen Evangelium. „Fürchtet euch also nicht!“ – schließt Jesus seine Mahnung – „ruft vielmehr von den Dächern“, was ihr in stillen Stunden der Sammlung und Besinnung in euren Herzen wahrgenommen habt. Dieses „von den Dächern rufen“ ist ein Bild für die Entschlossenheit, die sich durch nichts beirren lässt, Jesu Botschaft zu durchdringen, sie vorzuleben und so zum Zeichen zu werden, „dem widersprochen wird und durch das viele zu Fall kommen, viele aber aufgerichtet werden“ (vgl. Lk 2,34f). Und Jesus sagt auch: Je mutiger ihr euch zu mir bekennt, desto mehr werde auch ich mich vor eurem Vater im Himmel zu euch bekennen (vgl. Mt 10,32). Jesu Worte sind im Sinn des Evangelisten Ermutigungsworte für die junge Christengemeinde und für alle, die die Botschaft Jesu weitertragen.
Zur Gottesfurcht gehört auch, dass wir Achtung haben vor dem Wert und der Würde, die uns von Gott gegeben sind. Die gelebte Gottesfurcht macht uns bewusst, dass wir uns selbst nicht guttun, wenn wir unter unserer Würde leben und uns von Menschenfurcht vom wahren Leben abbringen lassen. Letztlich müssen wir keine Angst um uns haben, weil wir Gott viel zu wertvoll sind, als dass er uns verlieren möchte.
Jesus wusste, dass seine Gegner ihm an das leibliche Leben wollten. Aber weil er sich in den Händen seines Vaters geborgen wusste und weil ihm das, was er von seinem Vater zu sagen und zu zeigen hatte, so wichtig war, ist er nicht ausgewichen als sein Weg in den Kreuzweg und in den Tod führte. Scheinbar haben seine Gegner triumphiert.
An Ostern und an jedem Sonntag feiern wir aber, dass sie seine Liebe zum Vater und zu uns Menschen nicht auslöschen konnten. Denn der Vater hat in ganz aufgefangen und in der Einheit seines innersten Wesens in Leib und Seele auferweckt vom Tod. Seine Hingabe, seine Liebe, sein Sterben und Auferstehen ist Jesu Gabe an uns, die Nahrung unserer Hoffnung. Wir, die Schwestern und Brüder Jesu, sind Gott so wertvoll, dass uns nichts und niemand seiner Hand entreißen kann.
Vertrauen wir Gott, so wird seine Hand uns immer auffangen und tragen, komme, was da wolle.
Seien Sie gesegnet und bleiben Sie behütet! Ihr P. Guido