Gnade vor Recht?
Predigt zum 24. Sonntag im Jahreskreis (A) Sir 28, 30 – 28, 7 und Mt 18, 21 – 35
Es ist wieder Petrus, der in das Gespräch mit Jesus geht. Für Matthäus heißt das: Es ist auch eine Frage der Gemeinde, der ganzen Kirche, die hier angesprochen wird. Wenn wir uns an die Textabschnitte und Problematiken der Evangelien der letzten Sonntage erinnern, wird gleich klar: Für Petrus heißt die Frage nicht, ob er seinem Bruder – seiner Schwester – überhaupt vergeben solle. Ihm ist sicher klar geworden, dass die Botschaft Jesu mit einer Verpflichtung zur Vergebung verknüpft ist. Die Frage lautet vielmehr: Wie ist es, wenn die wiederholt ausgesprochene Vergebung keinen Nutzen zeigt? Wann ist der Zeitpunkt da, der eine weitere Vergebungsbereitschaft nicht mehr zumutbar erscheinen lässt?
Und wir spüren sehr deutlich, dass es auch für uns notwendig ist, gewissermaßen konkret hineinzugehen in dieses Gespräch, damit wir deutlicher auf die Spur der Botschaft Jesu kommen und auch für uns heute in Sachen Jesu und Gottes lernfähiger werden.
Die von Petrus ausgesprochene siebenmalige Vergebung setzt für den Vergebenden ein hohes Maß an Einfühlungsvermögen und Durchhaltevermögen in Bezug auf den Verstockten voraus. Das ist klar! Vor allem, wenn es nicht um Kleinigkeiten geht. Nun, Jesus antwortet zwar mit einer Zahl, aber er meint keine messbare Größe: „Nicht siebenmal, sondern siebenundsiebzigmal!“ – will heißen, nicht nur oft, sondern immer. Jesu Forderung ist radikal. Die Vergebungsbereitschaft soll kein Ende haben.
Jesus, der Herzenslehrer, verdeutlicht seine Botschaft wieder in einer gleichnishaften Beispielerzählung. Es ist eine ungeheuer große Summe, mit welcher der Diener bei seinem Herrn verschuldet ist. Er kann unmöglich die nach unserer Währung ca. 3,8 Milliarden Euro aufbringen, um seine Schulden zu begleichen. Ganz im Stil der damaligen Zeit wirft er sich vor seinem Herrn zu Boden und bittet um Stundung. Und da geschieht das Unglaubliche: Der Herr lässt „Gnade vor Recht“ ergehen und erlässt die ganze Schuld.
Machen wir uns das Geschehen wirklich bewusst: Es wird völliger Erlass der ungeheuer großen Schuld gewährt…
Nun trifft der so mit der Freigiebigkeit seines Herrn Beschenkte einen seiner Mitknechte, der ihm wiederum die, gemessen an seiner Schuld, lächerlich geringe Summe von 100 Denaren (das entspricht ca. 6.400 Euro) schuldet. Auch der bittet ihn mit gleichen Worten um Aufschub. Nun, Ersterer pocht auf sein Recht und verweigert die Stundung. Ja, mehr noch, er setzt sein Recht um und fordert die Zahlung ein. Die Dramatik des Geschehens wird nun durch die Mitknechte verdichtet. Sie haben die unglaubliche Großherzigkeit des Herrn erlebt und sind jetzt geschockt von der Haltung des ersten Dieners. Es fällt uns nicht schwer, das nachzuvollziehen. Und auch die nachfolgende Handlung des Königs ist begreiflich. Der unbarmherzige Diener muss die ganze Härte des eingeforderten Rechtes erfahren.
Natürlich haben wir, wie sicher Petrus und die Gemeinde des Matthäus, schnell begriffen, was da von Jesus ausgesprochen wird: Jesus spricht vom Reich Gottes. Wenn Gott also wie dieser König ist, dann ist unser Gleichnis „Frohe Botschaft“ schlechthin: Von Gott dürfen wir tatsächlich alles erhoffen und erwarten. Seine Barmherzigkeit, seine Gnade ist viel größer als alles menschliche Versagen. Aber: Dieser Gott ist bei aller Güte kein harmloser Typ mit einem langen Bart. Er ist in einer Weise radikal, die alles umwirft, was wir so ausrechnen. Er schenkt nicht nur, er fordert auch. Und was fordert er?
Schauen wir nochmal auf das Gleichnis: Der erste Diener macht als Gläubiger nichts Unrechtes. Er verhält sich ganz im Rahmen der vorgegebenen Rechtsordnung. Er fordert, was ihm zusteht. Im Kontext der Erzählung ist er uns aber ziemlich mies und widerwärtig vorgekommen. Warum eigentlich? Nun, Jesus hat uns alle im ersten Teil seines Beispiels, ohne dass wir es bemerkt hätten, von der Ebene unserer weltlichen Rechtsordnung und unseres so gepriesenen ökonomischen Denkens auf die Ebene des göttlichen Wollens und der „Gnadenordnung“ des Himmelreiches gehoben. Ja, wir ahnen es: Gott fordert von uns, dass wir eben diesen Schritt nicht nur gedanklich und theoretisch nachvollziehen, sondern uns tatsächlich auf seine himmlische Ebene begeben. Schon in der Bergpredigt ist diese Forderung greifbar. Dort hieß es: „Seid also vollkommen, wie es auch euer himmlischer Vater ist“ (Mt 5,48).
Es gehört zu unserer menschlichen Natur, dass wir geliebt und angenommen sein wollen, ohne es zu verdienen oder einklagen zu müssen. Wie oft aber werden wir enttäuscht! Es ist eine neue Welt, die aus dem entstehen kann, was Jesus sagt und wie er von Gott seinem Vater spricht, der vor allem ein Gott der Barmherzigkeit und der Gnade ist. Da wird ebenso deutlich, dass die Vaterunser-Bitte „vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“ – so beten wir in der liturgischen Form; in Mt 6,12 heißt es: „Und erlass uns unsere Schulden, wie auch wir sie unseren Schuldnern erlassen haben!“ –, dass also die Vaterunser-Bitte tatsächlich ausspricht, was gemeint ist und nur durch solche Radikalität das Reich Gottes greifbar wird. Wir sollen nicht fragen: Was steht uns zu? Sondern: Was braucht der andere in seiner Not, wie kann ich ihn trösten, wie ihm helfen? Gemeint ist wirklich „Gnade vor Recht“. Und das ist nicht als unverbindliche Aufforderung gemeint, gelegentlich mal ein Auge zuzudrücken. Es kommt vielmehr einer Umwertung unserer Werte und unseres oft gottlosen Denkens gleich. Das alles hat zu tun mit einer neuen Menschlichkeit. Es hat zu tun mit dem Reich Gottes, das Jesus verkündet und das in ihm angebrochen ist.
Vielleicht kommt einem bei diesen Gedanken zu Bewusstsein, wie oft jeder und jede von uns, wie oft wir alle schon gegen diesen Grundsatz gehandelt haben, und wie wenig wir ein Recht haben über den unbarmherzigen Diener die Nase zu rümpfen. Es ist Gottes Sache zu richten. Uns steht es nicht zu. Ich nenne Jesus „Herzenslehrer“, weil alle wirkliche Veränderung in unserem Leben in unserer Mitte, in unserem „Herzen“ beginnen muss. Er allein ist unser Meister und Lehrer, wir alle sind Brüder und Schwestern (vgl. Mt 23,8). Wir sind Lehrlinge, die noch viel zu lernen haben.
Ich wünsche Ihnen die Erfahrung der Liebe und Gnade Gottes und bleiben Sie behütet!
Ihr P. Guido