Die wahre Zeitenwende
Die wahre Zeitenwende
Leben wir, liebe Schwestern und Brüder, in einer Zeitenwende? Diesen Begriff hat Bundeskanzler Olaf Scholz in seiner Bundestagsrede vom 27. Februar 2022 geprägt, mit der er auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine reagierte.
Eine Zeitenwende ist ein Markstein in der Geschichte, ein Moment, um den sich die Zeit gewissermaßen herumwickelt, so dass die Geschichte einen anderen Weg einschlägt. Oft weiß man nicht, in welche Richtung sie anschließend geht und eine solche Offenheit erzeugt bei den Zeitgenossen ohne Zweifel eine Unsicherheit. Wenn man nicht weiß, wohin sich die Geschichte entwickelt, dann lässt sie sich schlecht vorhersagen. Zwar wissen wir natürlich, dass man nicht in die Zukunft schauen kann, aber genauso gut wissen wir, dass wir dennoch Pläne für die Zukunft machen. Das tun wir, obwohl wir natürlich nicht alles genau voraussagen können. Aber solange man zumindest mit einiger Sicherheit sagen kann, dass die Dinge sich so oder so entwickeln, trauen wir uns Pläne und Vorhersagen zu. Man könnte sagen: Wenn wir in sicheren Zeiten leben, fallen uns solche Pläne umso leichter. Eine Zeitenwende durchkreuzt diese Sicherheit. Alles wird etwas unbestimmter. Wir haben es erlebt: Preissteigerungen, Inflation, Zinserhöhungen, politische Umwälzungen, neue Flüchtlingsströme. Niemand hier konnte es planen, plötzlich aber musste man sich darauf einstellen – und viele Pläne wurden zunichte gemacht.
Eine Zeitenwende im positivsten Sinne ist das Weihnachtsfest. Und weil wir es jährlich begehen im Gedächtnis an die Geburt Jesu in Bethlehem, so muss man feststellen, dass wir uns mit Zeitenwenden am besten auskennen müssten. Ist Weihnachten nicht die bedeutendste Wende der Geschichte? So bedeutend, dass sich sogar unsere Zeitrechnung um dieses Datum herumwickelt? Wenn wir das Weihnachtsfest über die liebgewordenen Bräuche der Festtage hinaus verstehen wollen, dann kann der Begriff „Zeitenwende“ derjenige sein, der wie kein anderer erklären kann, was Weihnachten bedeutet. Gott wird Mensch, er kommt „im Fleisch“ auf diese Erde, die ein winziges Staubkorn in der Ewigkeit der Ausdehnung des Universums ist. Du bist nicht nichts, lieber Mensch, so ruft es uns Gott mit dieser Tat zu, du bist auch nicht alleine, du bist keine Zufälligkeit der Gesetzmäßigkeiten der Physik. Deine Existenz hat eine Bedeutung, nicht nur während deines Lebens, sondern darüber hinaus – bis in die Ewigkeit, für die Gott selbst steht.
„Fest der Familie“ nennt man Weihnachten oft. Es ist noch viel mehr: Ein Fest des Menschen. Schafft der Mensch es, daraus Vertrauen zu schöpfen, dann kann er allen Zeitenwenden der Geschichte mit Zuversicht entgegenblicken.
Erschienen ist die Gnade Gottes / zur Rettung der ganzen Welt, /weil der König geboren wurde, Christus,/ in der Stadt Davids, in Betlehem in Jüdäa. / Der auf Erden erschien und unter den Menschen lebte, / dieser ist Gott, Licht vom Licht. (aus der Jerusalemer Liturgie)
Ein frohes und gesegnetes Weihnachtsfest Ihnen allen!
Ihr Pfarrer
Benedikt Wach