Predigt zum 31. Sonntag im Jahreskreis A –
Mal 1,14b-2,2b.8-10; 1 Thess 2,7b-9.13 u. Mt 23,1-12
Da lesen und hören wir die Worte des Evangeliums und was fällt einem dazu ein? Ein Wort des Dichters Heinrich Heine, der einmal recht spöttisch sagte: „Sie trinken heimlich Wein und predigen öffentlich Wasser!“ Es sind nicht nur die Medien, die über jene herfallen, von denen Paulus im Galaterbrief geschrieben hat: „Wenn ein Mensch sich zu einer Verfehlung hinreißen lässt, so sollt ihr, die ihr vom Geist erfüllt seid, ihn im Geist der Sanftmut zurechtweisen. Doch gib Acht, dass du nicht selbst in Versuchung gerätst“ (Gal 6,2). Wir sind in den letzten Jahren mit so vielen verschiedenen Missbrauchsfällen und -vorwürfen von kirchlichen Amtsträgern konfrontiert worden, dass nicht nur die Verfehlungen einzelner nach Meinung vieler Mitchristen den Glauben an Gott in unserer Kirche insgesamt derart in Frage stellen, dass sie scharenweise die Gemeinschaft verlassen haben. Auch jene, die dabeibleiben, fühlen sich zutiefst verunsichert und in ihrem Glauben angegriffen. Schnell wird kategorisch festgestellt, dass es ein systemischer Fehler sei in der verfassten Gestalt der Kirche, den man korrigieren müsse und alles sei wieder gut: Die Ämter und Aufgaben seien falsch verteilt und organisiert. Die Beauftragungen und Weihen müssten anders und entsprechend des Zeitgeistes neu zugeordnet werden. Natürlich ist es richtig, dass sich die Gestalt der Kirche im Verlauf ihrer Geschichte entsprechend ihrer Aufgaben der Verkündigung und des Zeugnisses für die Liebe Gottes verändern muss. Das sagt auch das 2. Vatikanische Konzil mit dem Wort „Ecclesia semper reformanda!“. Es ist also notwendig, mit Selbstkritik und dem richtigen Veränderungswillen die Gemeinschaft der Kirche zu sehen. Aber es kann doch nicht sein, dass sie sich immerzu nur mit sich selbst beschäftigt und ihren Auftrag vom Herrn vergisst, und der bleibt die Verkündigung und das Zeugnis für die Liebe Gottes!
Schauen wir auf die Worte des heutigen Evangelientextes und versuchen wir zu ergründen, was die Absicht Jesu in seiner Rede ist. Wir müssen auch betrachten, wie der Evangelist Matthäus hier agiert. War das 21. und 22. Kapitel des Matthäusevangeliums immer wieder geprägt von direkten Diskussionen und Streitgesprächen zwischen Jesus und seinen Gegnern, so fällt jetzt sofort auf, dass Jesus nicht „mit“, sondern „über“ die Schriftgelehrten und Pharisäer spricht. Und das geschieht in einer Rede an das Volk und seine Jünger. Wir dürfen also davon ausgehen, dass das beschrieben Verhalten der Gegner Jesu wie ein Gegenbild genutzt werden soll, um den Zuhörern – also der christlichen Gemeinde – eine Mahnung zum eigenen Verhalten aufzuzeigen. Es sind besonders die Verse Mt 23,8 – 12, die das plausibel machen. Jesus zeigt auf das Verhalten der Pharisäer und Schriftgelehrten, um zu verdeutlichen: „Bei euch soll es nicht so sein!“ Wenn wir danach fragen, warum es bei uns Christen nicht so sein soll, wie bei den geschilderten Gegnern Jesu, dann gibt unser Text dafür zwei Anhaltspunkte. Der erste findet sich in Vers 4: Dort heißt es: „Sie schnüren schwere und unerträgliche Lasten zusammen und legen sie den Menschen auf die Schultern, selber aber wollen sie keinen Finger rühren, um die Lasten zu bewegen“ (Mt 23,4 – das griechische Verbum „kinei“, das die Einheitsübersetzung jetzt mit „bewegen“ übersetzt, hat auch die Bedeutung „wegschaffen“.) Die unerträglichen Lasten, das sind die Vielzahl an Geboten und Verboten, die gewisser-maßen von den Gläubigen als zu erfüllende Leistung erbracht werden müssen, um das Wohlwollen und die Barmherzigkeit Gottes zu erhalten. Es wäre aber gerade die Aufgabe der Frommen und Gelehrten, hier zum Kern der göttlichen Offenbarung vorzudringen – das ist eine Herausforderung auch für Heute – wo es als Prophetenwort heißt: „Barmherzigkeit will ich statt Opfer!“ (Vgl. Hos 6,6; dazu auch Mt 9,13; 12,7). Die Pharisäer und Schriftgelehrten stehen also mit ihrer Spitzfindigkeit in der Auslegung der göttlichen Weisung der Barmherzigkeit Gottes nicht nur im Weg, sie machen den Weg noch schwerer. Und warum machen sie das? Es ist ihre Rolle, ihr Auftreten, ihr selbstherrliches Gehabe, die Quasten, die Schnüre, die ersten Plätze und mehr… Im Grunde schwingt in der Beschreibung des Äußeren das mit, das dann im Vers Mt 23,13 ausgesagt wird. Sie sind „hypokrites“, eine Bezeichnung, die gerne mit „Heuchler“ übersetzt wird, die aber eigentlich den „Schauspieler“ meint, und zwar nicht als einen, der sich bewusst und voller Können verstellt und eine Rolle spielt, wie es sein Beruf ist, sondern als einen, der absolut überzeugt ist, das Richtige zu tun, aber die Wahrheit und damit den Willen Gottes in Selbstüberheblichkeit verfehlt. Allerdings sind sie, wie Jesus auch sagt „weiß übertünchte Gräber“ – außen schick und innen voller Moder und Tod (vgl. Mt 23,27).
Wir merken, es geht bei all dem in der Rede Jesu um die Sache der göttlichen Barmherzigkeit und wie sie in der Gemeinde und im Leben jedes und jeder einzelnen in der Kirche gelebt wird, also um den Kernauftrag des Christen. Der ist keineswegs nur eine Sache der Geistlichkeit oder der sogenannten Amtskirche. Wir alle sind gemeint. Es ist für den Evangelisten Matthäus eine Schule des Wachstums hinein in gelebte Nähe der Liebe Gottes. Und wie kommen wir als Einzelne und auch als Gemeinschaft auf diesen Weg des Wachstums? Da sind die schon genannten Verse Mt 23,8-12 eine gute Anleitung, die wir uns als Fragen – vielleicht auch zur Gewissenserforschung – stellen können. Mir kommt aber auch das Abendgebet der „Kleinen Brüder und Schwestern des Charles de Foucauld“ in den Sinn, das wir als Wachstumshilfe im Sinne des Matthäus und natürlich Jesu für uns sehen und auch gebrauchen können, damit wir als Kirche nicht noch mehr um uns selbst kreisen, sondern den Blick auf die Welt und die Menschen weiten, die die Botschaft der Liebe Gottes so unendlich benötigen:
Haben wir diesen Tag gelebt, Herr, wie es dir gefällt?
Sind wir geduldig, schlicht und liebevoll gewesen?
Haben wir jenen genug Zeit gegeben, die zu uns kamen?
Haben wir ihre Hoffnung beantwortet, wenn sie fragten?
Haben wir sie umarmt, wenn sie weinten?
Haben wir sie zärtlich aufgemuntert, bis ihr Lachen wieder da war?
Haben wir in all ihren Leiden gebetet?
Haben wir Blumen gegeben mit dem Brot?
Haben wir deine Freude zum Blühen gebracht?
Sind wir unseren Brüdern immer Bruder, den Schwestern Schwester gewesen?
Wenn das alles nicht so war, Herr, verzeihe uns.
Und selbst wenn es so war, es genügt nicht.
Umgib uns jeden Tag mit mehr Liebe,
Herr, bis zum großen Licht deiner Unendlichkeit.
Seien Sie gesegnet und behütet! Ihr P. Guido