Die Liebe trägt das Böse nicht nach, sie erträgt alles
Predigt zum 7. Sonntag im Jahreskreis – A – Lev 19, 1-2.17-18 und Mt 5, 38-48
Einmal trifft uns das Wort der Evangelien mitten ins Herz. Einmal fühlen wir uns angesprochen und freuen uns, z.B. über eine Reihe von Gleichnissen und Parabeln, in denen Jesus auf so liebenswerte Weise von seinem und unserem Vater spricht. Ein andermal empfinden wir das Gehörte als eher sperrig und schwer zu verstehen und noch viel schwerer es zu leben. Was das Evangelium heute sagt, sieht wie eine Überforderung aus. Es scheint lebens- und wirklichkeitsfremd in unserer Welt. „Einem, der uns auf die rechte Wange schlägt, auch noch die andere hinzuhalten“. Natürlich kennen wir diese Worte, aber das Geforderte halten wir mindestens für entwürdigend. Und da kaum jemand es für sich auch als Handlungsperspektive zu sehen vermag, gehen wir einfach darüber weg. Dennoch: Die Worte des Evangeliums sind uns gesagt. Schauen wir genau hin: Da ist nicht nur die Rede von dem, was Jesus uns aufträgt. Da ist zuerst und vor allem die Rede von Gott: Der Vater im Himmel ist vollkommen, ist barmherzig. „Er lässt seine Sonne aufgehen über Bösen und Guten, und er lässt regnen über Gerechte und Ungerechte“, sagt Jesus (Mt 5,45). Seine Barmherzigkeit ist so grenzenlos, dass wir manchmal gar meinen, widersprechen zu müssen. Wir denken doch, in diesem oder jenem Fall müsste er dazwischenfahren, und zwar gleich und gründlich, sehen wir doch manche Despoten, die andere unterdrücken und sogar vernichten wollen und es auch tun. Aber Gott ist kein Despot und kein Tyrann. Er ist anders. Er ist geduldig und barmherzig.
Jesus zeigt uns, wie der Vater ist. Wer ihn sieht, sieht den Vater, das sagt er uns (vgl. Joh 14,9). In seiner Todesstunde betet er sogar für jene, die ihn ans Kreuz geschlagen haben: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“ (Lk 23,24). Wir alle stehen unter seinem Kreuz und leben aus seiner Barmherzigkeit. Übrigens: Barmherzigkeit ist Liebe, die leidet, weil sie mitleidet.
Der Apostel Paulus hat diese Barmherzigkeit besonders eindringlich erfahren. Der erhöhte Herr öffnete ihm, dem Christenverfolger, die Augen und beruft ihn zu seinem Apostel. Aus dieser Erfahrung heraus konnte Paulus seine Gemeinden auf das Vorbild des verzeihenden, gekreuzigten und auferstandenen Herrn hinweisen und darauf, was für sie daraus folgen sollte. Den Christen in Korinth schreibt er: „Die Liebe trägt das Böse nicht nach, sie erträgt alles“ (vgl. 1 Kor 13,5.7). Den Christen in Rom schreibt er: „Segnet eure Verfolger; segnet sie, verflucht sie nicht!“ (vgl. Röm 12,14) und das angesichts eines Kaisers Nero, der Christen als lebendige Fackeln verbrennen ließ. Über die Art, wie Christen miteinander umgehen sollen, schreibt er an die Gemeinde in Ephesus: „Seid gütig zueinander, seid barmherzig, vergebt einander, weil auch Gott euch durch Christus vergeben hat“ (Eph 4,32). Diese und viele andere solcher Worte sind auch für uns Anspruch. In der Bergpredigt sagt Jesus: „Seid also vollkommen, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist“ (Mt 5,48). Wie können wir damit umgehen? Die angesprochene Vollkommenheit ist nicht als unerfüllbares Ideal zu verstehen. Näher kommen wir Gott in der Liebe, die jeder Christ, jede Christin in der Nachfolge Jesu zu verwirklichen sucht und suchen soll, wie es ihm und ihr möglich ist. „Lebe vom Evangelium, was Du verstanden hast“, so hat es Frère Roger Schutz, der Gründer von Taizé gesagt. Also: Weil wir als Christen in Gott und seiner Liebe leben, werden auch wir lernen müssen, unsere Mitmenschen, ja sogar unsere Feinde, zu lieben, das heißt, sie in die Liebe Gottes – in seine Barmherzigkeit – mit hineinzunehmen, so wie wir in Gottes Nähe angenommen und seine Töchter und Söhne sind.
Unser ganzes Leben lang gehen wir in der Schule der Liebe, besonders der verzeihenden Liebe. Wir haben nie ausgelernt, bleiben immer Anfänger. Dabei gilt es nüchtern zu sehen, dass wir Gefühle und Abneigungen nicht ohne weiteres beherrschen können. Wenn uns jemand verletzt hat, wird es uns kaum zuzumuten sein, ihm gleich darauf um den Hals zu fallen. Wenn wir aber dem Beleidiger oder der Verleumderin nichts Böses wünschen und zur Versöhnung im rechten Augenblick bereit sind, dann befinden wir uns durchaus im Einklang mit dem Evangelium und somit auf der Spur Jesu.
Wir entkräften die Worte Jesu auch dann nicht, wenn wir um unser selbst willen auf unserem Recht bestehen müssen. Jesus hat dem Knecht, der ihm vor den Augen des Hohenpriesters ins Gesicht schlug, ja auch nicht die andere Wange hingehalten, sondern ihn gefragt: „Wenn es nicht recht war, was ich gesagt habe, dann weise es nach; wenn es aber recht war, warum schlägst du mich?“ (Joh 18, 23).
Dieses Recht auf Selbstbehauptung und Widerstand gilt auch dort, wo wir für mehr Menschlichkeit und Menschenwürde einzustehen haben. Nicht das Nachgeben „um des lieben Friedens willen“ verlangt Jesus von uns, nicht den Verzicht auf sachliche Auseinandersetzung, nicht auf das, was man „Streitkultur“ nennt, wohl aber den Verzicht auf Gewalt und Vergeltung.
Eben das ist die hochherzige Haltung eines Christen: Erkenne den Bruder und die Schwester in jedem Menschen, erkenne ihn und sie selbst in denen, die dir nicht gut wollen und auch noch meinen sie seien absolut im Recht. Erinnere dich an Jesu Leben, denk daran, wenn du geschlagen wirst, wenn du dich geschlagen fühlst, denk daran, und versuche danach zu handeln.
Es bleibt dennoch schwierig. Gar keine Frage. Allzu oft ist unsere Angst um das „Kleine Ich“ viel zu groß. Deshalb steht es uns sicher an, immer wieder vor Gott demütig zu sein, nach dem Maßstab: Herr, ich möchte glauben. Hilf meinem Unglauben! Das wäre schon viel.
Der Dichter Wolfgang Borchert schrieb einmal:
Stell dich mitten in den Regen,
glaub an seinen Tropfensegen
spinn dich in das Rauschen ein
und versuche gut zu sein!
Stell dich mitten in den Wind,
glaub an ihn und sei ein Kind -
lass den Sturm in dich hinein
und versuche gut zu sein!
Stell dich mitten in das Feuer,
liebe dieses Ungeheuer
in des Herzens rotem Wein -
und versuche gut zu sein!
Aus: Wolfgang Borchert, Das Gesamtwerk, 2007, Hamburg
…und versuche gut zu sein. Den Gemeinden in Galatien sagt der Apostel Paulus: „…lasst uns nicht müde werden, das Gute zu tun…“ (Gal 6,9a). So sind wir auf dem Weg, der uns Gott näherbringt.
Seien Sie gesegnet und behütet in der Liebe Gottes! Ihr P. Guido