Predigt zum Hochfest Maria Himmelfahrt 2021 – 1 Kor 15,20-27a und Lk 1,39-56
Fridolin Stier war in Tübingen Professor für Altes Testament. Sein ganzes Leben – er starb 1981 im Alter von 79 Jahren – war ein Ringen um das tiefe innere Verstehen und Begreifen des Wortes Gottes wie es in der Bibel begegnet. Dieses Wort und damit seinen Glauben suchte er immer wieder neu ins Wort zu bringen. Im posthum herausgegebenen 2. Teil seiner Tagebücher mit dem Titel „An der Wurzel der Berge“ (Freiburg 1984) findet sich unter dem 15. August, dem Fest Maria Himmelfahrt, folgender Eintrag:
„Was für ein großer Verehrer der Muttergottes wäre ich wohl geworden, wenn… Aber bevor man die Worte verstand, hat man das Ave-Maria zu plappern gelernt. Ein Wortehrendienst wurde geleistet, eine kultische Übung verrichtet. Maria wurde besprochen, angesprochen, übersprochen, bevor sie selbst zum Sprechen kam. Fleisch- und blutlos zu einer mythologischen Figur hinaufgehimmelt, kam sie einem nicht nur nicht näher, man konnte sich ihr auch nicht nähern, ihr, dem Menschen, der Frau aus Nazareth. … und es kam nicht zu der Begegnung, die mich ergriffen hätte, ergreifen wollte“ (a.a.O. S.209).
Darum geht es: Sich ergreifen lassen von dieser Frau aus Nazareth. Ja, man muss Maria selbst sprechen lassen, damit eine echte Begegnung mit ihr möglich ist. Nur dann kann aus dieser Begegnung ein Glaubensimpuls entstehen. Dabei gibt es in den Schriften des Neuen Testamentes so gut wie keine direkte Rede Mariens mit der sie uns ansprechen, ergreifen könnte. Selbst der kurze Dialog bei der Verkündigung des Herrn durch Gabriel und das großartige Lied des Magnificat sind durch den Evangelisten und sein Schreiben hindurch gegangen. Mit der Frau aus Nazareth ins Gespräch zu kommen, wird also nur möglich sein, wenn man auf ihr Leben schaut und aus diesem Leben den Widerhall im eigenen Leben sucht. Da geht es nicht – gestatten Sie mir dieses Wort – nicht um Maria eins-punkt-null oder um Maria zwei oder gar drei-punkt-null. Da geht es einfach um das nur einmalig mögliche Lebenszeugnis dieser Frau, die in ihrer Einmaligkeit niemand kopieren oder vervielfältigen könnte, zu welchem Zweck ob gut oder nicht gut, wie auch immer.
Der Heilige Bernhard von Clairvaux nannte Maria mit Fug und Recht den „Orientierungsstern“ auf der Fahrt unseres Lebens: „Ave maris stella“ – „Sei gegrüßt du Stern des Meeres“. Wenn man in Marienstatt auf das mittlere Fenster im Hochchor der Kirche in Richtung Osten schaut, dann kann man diesen Meeresstern in den vom Künstler Wilhelm Buschulte geschaffenen Fenstern entdecken. In diesem Fenster ist der Stern verknüpft mit einer weiteren Bezeichnung Mariens aus der sogenannten Lauretanischen Litanei. Der Meeresstern ist verbunden mit der „Pforte des Himmels“. Eine wahre Himmelspforte ist sie, die Frau aus Nazareth. Durch Maria, durch ihr Wort als Antwort an den Engel: „Ich bin Gottes Magd. Mir geschehe, wie du gesagt“ (vgl. Lk 1,38), trat Jesus, der Gottessohn in die Welt, wurde Gott Menschensohn, tritt der Schöpfer ein in die von ihm geschaffene Wirklichkeit und wird als in der Frau gewordenes Menschenkind – durch sie und ihr Fleisch also geworden – selbst zur Türe hin in die Gemeinschaft mit Gott. Durch ihren eigenen Glaubensweg in der Nachfolge ihres Sohnes mit all den Freuden – ich denke an das, was der Evangelist Johannes von der Hochzeit zu Kana erzählt – und ebenso mit all den Lasten des Weges mit ihm – schon mit zwölf Jahren entfremdet er sich und sie sucht ihn unter Tränen – bis hin unters Kreuz und sicher, wie es die Frömmigkeit nachzuvollziehen sucht, bis hin zur Mutter der Schmerzen mit dem toten Sohn auf dem Schoß, findet sie selbst den Weg hin zur Pforte des Himmels.
Es ist genau diese Maria, die Zeichen der Hoffnung ist. Gott hat sie als einfache Frau erwählt. Mit ihrem Alltags-Lebens-Programm ist sie viel mehr als eine Symbolfigur für alle Menschen. Gott verwirklicht an ihr und mit ihr, was wir erhoffen: Seine Liebe soll allen sichtbar werden. Das ist Ausdruck unserer tiefsten Glaubensüberzeugung. Denn Gott handelt an Maria so, wie wir es im Glauben erhoffen: Wir werden eine Zukunft haben. Hier und jetzt und wir werden bei Gott leben. Auferstehung ist eine Wirklichkeit, in die Gott uns hineinholt. Dann folgen, wie es im Korintherbrief heißt, alle, die zu ihm gehören (vgl. 1 Kor 15,13).
Diese Maria, die uns so in Freude und Leid in ihrem Glauben voran gegangen ist, verehren wir. Sie ist unsere Wegbegleiterin. Sie ist für uns Hoffnung und Zuversicht, weil sie durch ihr Leben unseren Glauben stärkt. Sie wird für uns zur Hoffnungsträgerin, weil sich unsere Zukunft in ihr abbildet. Und all das sagt sie ohne viele Worte durch ihr Leben. Das haben wir heute am Festtag ihrer Aufnahme mit Leib und Seele zur Gemeinschaft des Himmels vor Augen.
Der Blick von ihrem Ende, von ihrer Vollendung her, hilft, den Glauben gerade heute als wegweisend zu erfahren. Gott führt zu einem guten Ende, was er begonnen hat. So, wie er Maria vollendet, wird er auch an uns handeln. Der Korintherbrief sagt es mit klaren Worten: „Auch der letzte Feind, der uns entgegensteht, der Tod, wird entmachtet" (1 Kor 15,16). Wer an Gott glaubt, hat Zukunft.
Maria ist nicht die „hinaufgehimmelte“ Frau, die weit weg von uns ist, sondern sie ist als Mensch und Frau aus Nazareth unsere Fürsprecherin, lebendiges Zeichen dafür, wie Gott an den Menschen handelt. Sie zeigt uns: Wo Gott am Werk ist, da findet der Mensch Zukunft und Heil. In einer Zeit, in der viele nicht mehr wissen, wofür sie leben, in der viele innerlich leer sind, gibt uns der Ausblick des Glaubens Sinn. Gott wird unser Leben vollenden. Er vernichtet den Tod und er zeigt seine Herrlichkeit beispielhaft daran, wie er an Maria gehandelt hat. Das ist unsere Hoffnung.
Mir kommen die Worte von Fridolin Stier wieder in den Sinn. Und ich denke, auch in seiner Klage, also darin, dass es ihm so schwer gemacht war, sich Maria wirklich zu nähern, hat auch er das ergreifende Vorbild dieser Schwester im Glauben letztlich doch gesehen.
Der Blick auf ihr Leben erschließt den tiefsten Grund unseres Glaubens: unser ewiges Leben in und bei Gott. Weg und Ziel der Nachfolge Jesu werden sichtbar: Der Meeresstern und die Pforte des Himmels geben ihre Bedeutung preis. Die Vollendung der Gottesmutter in ihrer leibhaften Aufnahme in den Himmel schafft eine Hoffnung, die leben lässt.
Maria sei uns Fürsprecherin! Seien Sie so gesegnet und behütet! Ihr P. Guido