Predigt zum 30. Sonntag im Jahreskreis (A) 1 Thess 1, 5c-10 und Mt 22, 34-40
Eine kleine Spinne hat ihr Netz fertig gewoben. Die ganze Nacht hat sie an ihrem Kunstwerk gearbeitet. Fein säuberlich hat sie einen hauchdünnen seidenen Faden von der einen Seite zur anderen Seite gezogen, hat dann von der Mitte bis nach außen immer mehr Fäden hinzugefügt, so, dass das Netz immer dichter und dichter wurde. Als die Sonne aufgeht, blickt die Spinne zufrieden auf das fertige Netz. Schön ist es geworden. Gleichmäßig und straff spannt es sich zwischen den Zweigen eines Strauches aus. Wie die Spinne das Netz so betrachtet, entdeckt sie einen ziemlich langen Faden im oberen Bereich des Netzes, vielleicht ein wenig zu lang. Schade, denkt sie sich. Dieser eine Faden nimmt dem Netz etwas von seiner vollkommenen Form. Ein letztes Mal zieht sie sich nach oben zu diesem langen Faden und beißt ihn ab. In diesem Moment fällt das ganze Netz in sich zusammen und samt der Spinne zu Boden. Die Spinne hatte in ihrem Eifer vergessen, dass das der Faden war, mit dem sie angefangen hatte und an dem das Netz aufgehängt war. Obwohl es nur ein unscheinbarer Faden war, so hing doch an ihm das ganze Netz.
Wieder einmal wendet sich ein Gesetzeslehrer an Jesus und stellt ihn auf die Probe: „Meister, welches Gebot im Gesetz ist das wichtigste?“ - Mit dem Gesetz sind nicht etwa nur die Zehn Gebote gemeint, sondern alle Weisungen und Vorschriften, die sich in der Tora, den fünf Büchern Mose, wie sie auch heißen, befinden. Es sind Hunderte von Geboten und Verboten, die in der täglichen Praxis des Judentums beachtet sein wollen. Welches also von diesen Geboten ist das wichtigste? Jesus kennt das Gesetz sehr gut und in seiner Antwort bindet er zwei Gebote zusammen: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben und deinen Nächsten wie dich selbst. Das Verbindende ist die Liebe, die wir sowohl Gott wie auch unseren Nächsten erweisen sollen. An diesen beiden Geboten, so sagt Jesus, hängt das ganze Gesetz samt den Propheten.
Der Gesetzeslehrer hatte wohl gehofft, dass Jesus ihm in die Falle geht und sich im Dickicht der vielen Gebote verheddert. Aber Jesus antwortet ihm ganz souverän und zeigt deutlich auf, worauf es letztlich ankommt. Denn er weiß: Gott selbst ist die Liebe, auf die alle Gebote zurückweisen. Wer mit seinem Tun nicht dazu beiträgt, Gott oder dem Nächsten Liebe zu schenken, dessen Tun ist vergeblich, auch wenn er sich noch so kleinlich an Regeln und Vorschriften hält. Das Gebot der Liebe ist wie der seidene Faden, an dem alles aufgehängt ist. Gottes Gebote sind Weisungen zu einem gelingenden Leben. Sie sollen dem Menschen dienen und ihm ein Leben in Freiheit ermöglichen, ihm helfen, Gott nahe zu sein und zu kommen. Sie wollen helfen, den Frieden und die Gerechtigkeit unter den Menschen zu bewahren. Alle diese Vorschriften sind aus der Liebe Gottes zu den Menschen hervorgegangen. Wer diesen dünnen Faden kappt, der zerstört mit ihm den Bund Gottes mit dem Menschen. Ohne die Grundhaltung der Liebe werden die anderen Gebote sinnlos.
Der Apostel Paulus hat die Bedeutung der Liebe sehr klar erfasst und den Weg der Liebe im Brief an die von Spaltungen bedrohte Gemeinde von Korinth als das grundlegende Gebot für die christliche Gemeinde in Erinnerung gerufen (vgl. 1 Kor 13). Bis hin zum oft so verpönten Kirchenrecht unserer Tage bleibt der Grundsatz des Liebesgebotes stehen, heißt es doch im letzten Canon (vgl. CIC can. 1752 aus dem Jahr 1983) „dass man immer das Heil der Seele vor Augen haben muss, das in der Kirche grundsätzlich über dem Gesetz steht.“ –
Von der Liebe hängt alles andere ab. Wer die Liebe wegnimmt, dessen Tun wird kalt und hartherzig sein. Es ist gut, dass Jesus diesen Punkt im Gesetz so stark betont hat. Achten auch wir darauf, dass wir diesen seidenen Faden der Liebe nicht kappen, denn ohne die Liebe wäre alles andere nichts. Und noch eine Bemerkung: Weil ich auch ganz persönlich weiß, wie schwierig es ist, die Liebe immer im Blick zu haben und auch zu leben, hilft mir ein kleiner Hinweis, den ich in der Regel des Heiligen Benedikt finde. Nachdem im vierten Kapitel dieser Regel insgesamt 73 Werkzeuge (Instrumente) der guten Werke aufgezählt wurden – das ist vergleichbar mit all den vielen Geboten… - steht am Ende dieses Kapitels: „Et de Dei misericordia numquam desperare.“ (RB 4,74) Ins Deutsche übersetzt heißt das: „Und an Gottes Barmherzigkeit nie verzweifeln.“ Ja, gerade weil wir von der Liebe niemals lassen dürfen und dennoch oft und oft spüren, wie sehr wir diesem Anspruch nur schlecht nachkommen, bleibt am Ende die Hoffnung auf die barmherzige Liebe Gottes. Denn an ihm, der die Liebe selbst ist, hängt all unser Tun und Lassen.
Lassen Sie mich noch daran erinnern, dass wir am heutigen Sonntag der Weltmission aufgerufen sind, durch unser Gebet und unsere Spenden mitzuhelfen, dass die Botschaft von der Liebe Gottes alle Menschen erreicht. Es ist einzig die Liebe, die den Menschen auf der ganzen Welt einen Weg bereiten kann, in Solidarität miteinander und im Suchen der Gerechtigkeit, Gottes Reich zu gestalten und in die Gemeinschaft mit Gott zu führen. Nur in dieser Liebe wird unsere so sehr bedrohte Welt eine Zukunft für alle finden.
Seien Sie gesegnet und behütet! Ihr P. Guido