Warum wird der Arme übersehen?
Predigt zum 26. Sonntag im Jahreskreis – C – Am 6,1a.4-7 und Lk 16,19-31
„Es gibt nichts Gutes, außer man tut es!“ Dieses Wort von Erich Kästner können wir als eine Art Brücke zum heutigen Evangelium sehen. Das Gleichnis vom armen Lazarus und dem Reichen führt uns heute tatsächlich zur Frage nach dem Umgang mit den Gütern dieser Welt. Jesus hat ein damals bekanntes ägyptisches Märchen aufgegriffen und auf seine Art weitererzählt. Kurz und knapp kann man die Sinnspitze der Erzählung darin sehen, dass die Sünde des Reichen nicht darin besteht, dass er es zu Reichtum gebracht hat, sondern darin, dass er den Armen vor seiner Türe einfach übersieht. Der Rollentausch nach dem Tod ist dramatisch und die Bilder von Feuer und Qual, die da gebraucht werden, lassen uns schaudern. Eine besondere Zuspitzung wird noch einmal vorgenommen in dem Wort: „Wenn sie auf Mose und die Propheten nicht hören, werden sie sich auch nicht überzeugen lassen, wenn einer von den Toten aufersteht“ (Lk 16,31). Es wird deutlich, dass der Evangelist für seine Gemeinde und damit auch für uns aus der österlichen Perspektive heraus unterstreicht, wie wichtig die augenblickliche und situationsbezogene Aufmerksamkeit ist. Ist ihnen aufgefallen, dass der Reiche in der Erzählung namenlos ist? Der Arme hingegen hat einen Namen: „Lazarus“ – der Name bedeutet „Gott hilft“.
Schauen wir zuerst einmal nicht auf den drohenden Unterton des Gleichnisses. Vielmehr ist es wichtig, danach zu fragen, was uns denn als Frage für unser Leben gestellt wird. Die ehrliche Frage angesichts der Schilderung der Not ist: Warum wird der Arme übersehen? und: Warum fällt es so schwer, auf die Mahnung Jesu zu hören, dass wir uns der Armen mit besonderer Sorge annehmen müssen, weil Gott sich gerade ihnen zuwendet?
Ich denke es ist vor allem die Unaufmerksamkeit, die Gleichgültigkeit und die Tatsache, dass man im alltäglichen Handeln einfach zu abgelenkt ist durch Vieles. Es ist weniger wirklich absichtlich böses Verhalten, das einem die Übersicht raubt. Die wenigsten von uns sitzen bei opulenten Partys wie der Reiche im Evangelium. Wir haben unsere eigenen Sorgen und oft genug damit zu tun, den Alltag zu bewältigen. Das ist gerade bei den derzeit bedrängenden Problemen wie dem Krieg in der Ukraine mit all seinen globalen Folgen und ebenso im Blick auf die Klimakrise gefährlich in der Nähe eines drohenden Überlebenskampfes, der unseren Blick noch mehr verengt. Natürlich wissen wir um die himmelschreiende Armut und Ungerechtigkeit in unserer Welt, aber selbst wenn einem die Bilder von hungernden Kindern oder von Menschen in der Not von Katastrophen vor Augen geführt werden, dann wird die Aufmerksamkeit schnell aufgesogen von den zigtausend anderen Bildern, die täglich auf uns einströmen. Wir sehen viel und übersehen noch viel mehr. Dass uns schlechte Nachrichten im Augenblick der Wahrnehmung durch Mark und Bein gehen ist gewiss. Aber denken wir an die Menschen in Not, wenn wir unsere Lebensmittel oder neue Kleidung oder sonst etwas kaufen?
Was bringt uns da weiter und schärft unser Bewusstsein? Angst, das klingt ja im Gleichnis an, ist eine schlechte Motivation. Die Wahrnehmung wird vielmehr durch eine Haltung geschärft, die in unserem Inneren liegt. In der Theologie des Bußsakramentes, der Beichte, wird zwischen zwei Antriebsmotiven für die Bitte um Vergebung bei Gott unterschieden: Die „attritio“, d.h. die Reue aus Furcht vor Strafe, und die „contritio“, die Reue aus Liebe zu Gott. Es ist die letztere, die wirklich hilfreich ist. Gott will uns nicht als angsterfüllte Kriecher, sondern als aufrechte Menschen, die frei „Ja“ sagen zum Guten. Das Wort von Erich Kästner trifft: „Es gibt nichts Gutes, außer man tut es!“ Wie kommen wir da hin?
Es braucht einen Seitenwechsel. Wechseln wir doch einmal auf die Seite des Lazarus. Ich weiß, dieser Wechsel wird nur unvollkommen sein, denn wir werden hoffentlich nie den Schrecken, die Aussichtslosigkeit und Menschenverachtung wirklicher Armut erfahren. Aber wir müssen lernen, die Not ganz an uns heranzulassen. Vielleicht haben wir in einer eigenen Bedürftigkeitssituation schon mal erfahren, wie gut menschliche Nähe ist. Bei einem Besuch in Deutschland - genauerhin war es beim Katholikentag in Freiburg im Jahr 1978 - fragte Mutter Theresa von Kalkutta die versammelten Katholikentagsbesucher: „Kennt ihr die Armen eurer Stadt?“
Üben wir zuerst eine dankbare Aufmerksamkeit für das Gute, das wir selbst unverdient erfahren und lernen wir eine ungeduldige Aufmerksamkeit für Situationen, in denen genau dieses Gute in hässlicher Weise fehlt. Wie gut tut es, wenn andere sich ehrlicherweise um uns sorgen. Wie gut sind oft kleine Gesten der Zuwendung. Wie gut ist ehrliche Anteilnahme bei Trauer und Schmerz. Das wahrzunehmen und dann selbst gut zu handeln hilft, den Blick zu schärfen. Ja, Papst Franziskus hat recht: Wir müssen an die Ränder gehen, um im Blick auf die Not die Barmherzigkeit neu zu lernen. Nicht aus Angst heraus eignet sich dieser Weg zu einem gelingenden christlichen Leben, sondern aus der Stärke der Liebe heraus gilt es zu handeln.
Im Abendgebet der Kleinen Brüder und Schwestern des heiligen Charles de Foucauld heißt es:
Haben wir diesen Tag gelebt, Herr, wie es dir gefällt?
Sind wir geduldig, schlicht und liebevoll gewesen?
Haben wir jenen genug Zeit gegeben, die zu uns kamen?
Haben wir ihre Hoffnung beantwortet, wenn sie fragten?
Haben wir sie umarmt, wenn sie weinten?
Haben wir sie zärtlich aufgemuntert, bis ihr Lachen wieder da war?
Haben wir in all ihren Leiden gebetet?
Haben wir Blumen gegeben mit dem Brot?
Haben wir deine Freude zum Blühen gebracht?
Sind wir unseren Brüdern immer Bruder, unseren Schwestern immer Schwester gewesen?
Wenn das alles nicht so war, Herr, verzeihe uns.
Und selbst wenn es so war, es genügt nicht.
Umgib uns jeden Tag mit mehr Liebe,
Herr, bis zum großen Licht deiner Unendlichkeit.
Seien Sie gesegnet und behütet! Ihr P. Guido