Von Indianern und guten Hirten
Impuls zum 4. Sonntag nach Ostern (Joh 10,1-10)
Willi Hofsümmer hat die kleine Geschichte überliefert, die ich Ihnen erzählen möchte:
Ein Indianer aus dem Reservat besucht einen weißen Freund in der Stadt. Als sie im Straßenlärm durch die Stadt gehen, sagt der Indianer: „Ich höre eine Grille." „Unmöglich", antwortet sein Freund, „hier gibt es keine Grillen. Und wenn schon, würde man ihr Zirpen nicht hören." Doch da zeigt ihm der Indianer das Tierlein unter dem Blattwerk einer Mauer. Darauf der weiße Freund: „Ihr Indianer habt eben ein besseres Gehör." Darauf lässt der Indianer ein kleines Geldstück fallen. Sofort drehen sich mehrere Leute nach dem Geräusch um. „Siehst du", sagt der Indianer, „das Geräusch war auch nicht lauter als das Zirpen der Grille. Aber alle hören das besonders gut, worauf sie zu achten gewohnt sind."
Das Gleichnis vom Guten Hirten (Joh 10,1-10) ist ohne Frage sehr eingängig. Es ist ein uraltes Bild aus dem Alltag und der religiösen Tradition des Volkes Israel. Die Herde, die den vertrauten Worten, der vertrauten Stimme folgt. Und es ist auch klar, dass Jesus dieses Bild verwendet, um seinen Auftrag deutlich zu machen: Er ist der gute Hirte, der uns Gläubige zur Gottesbegegnung ruft, und wie die Schafe dem Hirten vertrauend nachgehen, werden wir ihm folgen. Doch, so möchte ich fragen, sind wir es denn gewohnt, auf seine Stimme zu hören? Wie kann Jesus so sicher sein, dass wir seine Stimme hören und, dass sie überhaupt zu uns durchdringt? Er und seine Stimme, sie sind die Türe, durch die eine lebensverändernde Begegnung möglich wird.
Wir sind in der österlichen Zeit. Gerade in den Ostergeschichten des Evangeliums wird die angesprochene Problematik deutlich. Schauen wir in ihnen nach einem möglichen Muster, das die Begegnung verhindert oder erschwert.
Maria von Magdala ist so sehr darauf fixiert, den Leichnam Jesu zu suchen, dass sie den lebenden Jesus nicht erkennt. Sie öffnet sich erst, als der sie mit ihrem Namen anspricht: Maria! (Vgl. Joh 20,11-18). Schauen wir auf die Emmausjünger (vgl. Lk 24,13-35). Sie sind fixiert auf den vorgeblich politischen Anspruch des Messias, sie sind fixiert auf den Tod des so propagierten Erlösers, so sehr, dass sie, gebunden an falsche Erwartungen, Jesus und seinen Weg des Leidens und der Liebe nicht erkennen. Erst als er ihnen den Sinn der Hl. Schriften eröffnet, erst als sie ihre falschen Vorstellungen aufgeben und im gemeinsamen Essen das Zeichen des Brotbrechens erfahren, da öffnen sich ihre Sinne und sie erkennen. Die überwältigende Erfahrung des Skeptikers Thomas in der Begegnung mit den Wunden Jesu lassen ihn zum Glaubensbekenntnis an Jesus finden: Mein Herr und mein Gott! (vgl. Joh 20,19-31). Die Jünger am See, die den Auftrag Jesu in seinem Sinn „Menschenfischer“ zu werden verdrängen und wieder in ihr Alltagsgeschäft einsteigen, sie werden durch die Liebe - „Meine Kinder“ sagt der Herr - und den Gehorsam - „Werft das Netz auf der rechten Seite des Bootes aus!“ - wieder auf den Weg gebracht und „sie wussten, dass es der Herr war!“ (Vgl. Joh 21,1-14). Offensichtlich ist die Festlegung auf bestimmte Erwartungen und Vorstellungen dem Glauben an Gottes Liebe und Nähe und der Begegnung mit dem Auferstandenen hinderlich. Echte Begegnung bedarf der offenen Zuwendung zu dem hin, der mir begegnen möchte. Es braucht Hörbereitschaft und das Ablegen von Erwartungen und Vorurteilen. Das lässt in mir die Frage aufkommen: Worauf sind wir in unserem Wollen und Wahrnehmen so fixiert, so festgelegt, dass eine Begegnung mit dem Neuen Leben von Gott her verhindert wird?
Die Erfahrungen des Todes und der Trauer, falsche Erwartungen, irrige Meinungen und Zielsetzungen, Oberflächlichkeiten, Sorgen des Alltags – es sind viele „Geräusche“ – denken wir an die Geschichte von Willi Hofsümmer -, die uns ablenken. Da sind viele Stimmen, die dazwischenreden, alles übertönen und Recht haben wollen. Vor allem aber müssen wir uns eingestehen, dass wir im Bezug auf Gott und sein Handeln und Sein viel zu sehr befangen sind in unseren Vorstellungen und Erwartungen. Wie oft sind wir der Ansicht, es besser zu wissen, wie Gott handeln sollte? Und wenn es anders kommt, dann ist die Gefahr groß, die Gottesbeziehung und den Glauben abzulegen wie ein altes Kleidungsstück.
Gerade auch in Krisenzeiten des Lebens wie auch der jetzigen Krise der Bedrohung durch ein unheimliches Virus fühlen wir uns hilflos und desorientiert, zumal wir von vielerlei Seiten fast überflutet werden mit Informationen und Meinungen, mit Ansichten und Vorschriften. Dabei wissen wir: Zur Bewältigung von Krisen im persönlichen und auch im gemeinsamen Leben gehört immer die Klugheit der Unterscheidung. Was ist wichtig? Worauf höre ich? Was hilft?
Und genau hier bedarf es qualifizierter Hilfe. Da muss uns jemand zur Seite stehen, der, beglaubigt durch sein eigenes Lebenszeugnis, mit großer Zuwendung und Kompetenz eine Perspektive bieten kann. Genau das ist der Auftrag des Guten Hirten. Wie bei den Jüngerinnen und Jüngern Jesu dürfen auch wir darauf vertrauen, dass der auferstandene Herr uns auf den richtigen Weg begleiten will. Er, der ewig Lebende, spricht uns in unseren Traurigkeiten mit unserem Namen an wie Maria von Magdala. Er geht mit uns auf unserem Lebensweg wie mit den Emmausjüngern, öffnet uns das Verstehen der Hl. Schrift und bricht das Brot mit uns. Er schenkt uns Begegnung wie dem Apostel Thomas und er bittet uns um Liebe und Gehorsam auf sein Wort hin. Er rührt in uns jene Sehnsucht an, die in allem Lebenden unstillbar und anscheinend unerfüllbar da ist: Die Sehnsucht nach Leben in Fülle. Jesus ruft uns zu, dass von Gott her alles möglich ist, selbst das neue Leben im Tod, das keine Dunkelheit mehr zu fürchten braucht.
Lassen wir uns herauslocken aus dem Schafstall unserer Fixierungen und angeblichen Vertrautheiten durch seinen Ruf, mit ihm selbst hinauszugehen zu den Menschen. Lassen wir uns vom ihm die Augen waschen wie es der nachfolgende Text von Bernhard Langenstein sagt. Er, Jesus, ist die Türe, er ist der Weg, die Wahrheit und das Leben. Erst wenn wir auf ihn hören und mit ihm gehen, dann begreifen wir seine Nähe und seinen Weg zum Vater.
Ihnen Gottes Segen und bleiben Sie behütet! Ihr P. Guido
Ostern in Piemont
In Piemont, sagt man, laufen die Menschen heim ersten Osterläuten
zum Brunnen in der Mitte des Dorfes.
Dort waschen sie sich die Augen aus.
Die lch-will-dich-haben-Augen,
die Machen-wir-ein-Geschäft-Augen,
die Geh-mir-aus-den-Augen-Augen.
Sie wollen Osteraugen bekommen.
Darum waschen sie die kalten,
die gierigen,
die listigen,
die misstrauischen Blicke fort.
Sie spülen die Schleier der Angst weg.
Und das kalte Wasser, sagt man,
schwemmt heraus den Dreck eines langen Jahres.
Sie heben den Kopf und schauen sich mit guten Augen an.
Bernhard Langenstein