Menschliches Leben ergibt sich nicht einfach so
Predigt zum 24. Sonntag im Jahreskreis (B) – Jes 50,5-9a und Mk 8,27-35
Markus schreibt die Geschichte Jesu nicht als eine abgeschlossene Erzählung, sondern als einen Aufbruch in eine neue Wirklichkeit, die geprägt ist von der „Frohen Botschaft“ der Nähe und Liebe Gottes. Die Geschichte Jesu hat ein offenes Ende! Denn der Auferstandene sendet die Jünger zum Ort des Anfangs: nach Galiläa (vgl. Mk 16,7). Das muss man sich immer wieder bewusst machen, wenn man das Markusevangelium liest oder hört. Folgerichtig sind alle, die sich Jesus als dem Träger dieser Botschaft anvertrauen, keine geschlossene Gesellschaft. Vielmehr sind alle, die Jesus folgen, Teil seiner Geschichte, die erst mit seiner Wiederkunft am Ende der Zeiten sich vollendet. So sind wir heute mit Jesus, dem Gottes- und Menschensohn durch die Zeiten unterwegs. So sind wir heute mit den Jüngern bei ihm auf dem Weg durch die Dörfer bei Cäsarea Philippi. Und er fragt auch uns heute, wofür wir ihn halten. Er hört die Antwort und er spricht zu uns heute die Worte vom Leben-Retten und vom Leben-Verlieren.
Diese Worte, die in den Evangelien gleich sechs Mal überliefert werden, sind uns bekannt; die Gefahr besteht, bei allem, das wir kennen oder zu kennen glauben, nicht mehr recht hinzuhören. Hören wir aber hin, dann gilt es auch herauszuhören, worum es Jesus wirklich geht. Und da sind wir wieder in der Geschichte, die bis zu uns und weiter reicht: Jesus möchte nichts Geringeres, als dass wir heute das Leben gewinnen.Das heißt: Ihm liegt daran, dass wir zum Leben aus Gott kommen. Und er sagt, wie wir es finden.
Viele Menschen haben genug damit zu tun, für sich und die Ihren den Lebensunterhalt zu bestreiten. Für sie besteht der Sinn ihres Lebens darin, am Leben zu bleiben. So ist es, wenn wir menschliche Existenz global betrachten. So geht es auch vielen in unserer Gesellschaft. Dort wo nun das Überleben kein Thema ist, wird es zur Frage, w i e man lebt. Da kommt der Begriff der „Lebensqualität“ ins Spiel. Man möchte „viel“ vom Leben haben. Aber was ist „viel“? Was ist damit gemeint?
Menschliches Leben ergibt sich nicht einfach so. Es will entworfen, gestaltet und verantwortet werden. Dass es nicht aufs „Haben“ allein ankommt, sondern auch aufs „Geben“, das spüren alle, die das Glück menschlicher Beziehungen erfahren und darum wissen, wie tödlich Einsamkeit sein kann. Sie geben einander Raum nicht zuerst, um einander zu „haben“ sondern um füreinander „da zu sein“. Die Corona-Pandemie der vergangenen anderthalb Jahre hat uns da die Augen neu geöffnet. Und dabei geraten „Gott sei Dank!“ auch diejenigen nicht aus dem Blick, die auf der Schattenseite des Lebens angesiedelt sind, wie beispielsweise die hohe Spendenbereitschaft in großen Notlagen, wie der erlebten Flutkatastrophe im vergangenen Juli in unserem Land zeigt.
Es gehört zur menschlichen Grundverfassung, dass an Leben nur gewinnt, wer davon abgibt. Das ist eine „Lebensqualität“, die den Namen verdient. Das Leben macht dann Sinn, wenn es zusammengeht mit dem Bemühen, füreinander oder für eine Aufgabe da zu sein. Und das kann nur, wer nicht an sich festhält, sondern sein Leben einsetzt, davon abgibt, es loslässt, kurz: es zu teilen bereit ist. Und damit stehen wir schon mitten im Raum der Botschaft Jesu. Denn darum geht's ihm ja gerade: von der ängstlichen und egoistischen Sorge nur für sich selbst frei zu werden und zur Teilhabe an Gottes Leidenschaft für das Leben aller „anzustiften“. Aber wie?
Es sind Widerspruch provozierende Worte, wenn Jesus sagt: „Wer sein Leben retten will, wird es verlieren; wer aber sein Leben um meinetwillen und um des Evangeliums willen verliert, wird es retten“ (Mk 8,35). Der Schlüsselbegriff ist das Wort „Leben“. Im griechischen Text steht dafür die Vokabel „PSYCHAE“ und dieser Begriff meint keineswegs nur einen Teil, sondern den ganzen Menschen in seiner Lebendigkeit, seinem Lebenswillen, seinen Lebensäußerungen, seinem Lebensziel: Der Mensch in seiner ganzen Existenz ist gemeint. Und dieses Leben soll aufgegeben werden? – Ja, es ist ein Widerspruch in sich, was wir da hören! Und wir müssen fragen: Kann man diesen Widerspruch auflösen?
Häufig wird dieses Wort Jesu so gedeutet, als spreche er vom „Leben“in einem doppelten Sinn: Zum einen vom irdischen Leben und andererseits vom ewigen Leben bei Gott. Das ist falsch. Die richtige Antwort findet sich – wie könnte es anders sein – in unserem Text des Evangeliums: Die Ankündigung des Leidensweges Jesu, der Einwand und die Zurechtweisung des Petrus und das Wort Jesu von der Kreuzesnachfolge öffnen uns den Horizont des Verstehens. Das (griechische) Wort „PSYCHAE“ für „Leben“enthält keine Doppelbödigkeit. Es wird vielmehr von Jesus aufgebrochen, überholt und geradezu ins Unermessliche ausgeweitet. Leben gilt ihm nicht mehr im Sinn allein irdischer und begrenzter Existenz, sondern beschreibt die Lebensweise, die im grenzenlosen Gott beheimatet ist und sich von ihm her entfaltet. Nicht irgendwann einmal, sondern hier und jetzt anfanghaft und am Ende der Zeiten für immer. Dieses Leben, das es „zu retten“, zu erkennen und an sich zu reißengilt, steht schon in einer endgültigen Dimension - nämlich in der Dimension Gottes und seines uneingeschränkten Heilswillens, der alle und alles miteinbezieht. Wer sich einlässt auf den Weg Jesu, auf seine „Frohe Botschaft“, steht im Horizont dieses „Neuen Lebens“. Wer den auf sich selbst bezogenen und egoistischen Weg der „Selbstverwirklichung“ „um Jesu und des Evangeliums willen“ verlässt, der erfährt die wahre Freiheit der Kinder Gottes.Wer Gott über sich verfügen lässt, begibt sich mit Jesus auf den Weg, der in die absolute Weite des Lebens führt - und das schon hier und jetzt.
Übrigens: Cäsarea Philippi war zur Zeit Jesu ein mondäner und ziemlich protziger Ort weltlicher Macht und scheinbarer Größe. Heute ist er nichts weiter als ein Haufen toter Steine ohne Leben.
Bleiben wir also mit Jesus auf dem Weg zum Leben aus Gott.
Seien Sie gesegnet und behütet! Ihr P. Guido