"Meine Hoffnung, sie gilt dir!"
Predigt zum 30. Sonntag im Jahreskreis – B – Jer 31,7-9; Hebr 5,1-6 u. Mk 10,46b-52
Am Wegesrand, dort, wo die Pilgerstraße aus dem Jordantal bei Jericho abbiegt und ziemlich steil und steinig hinaufführt nach Jerusalem, dort sitzt er, der Blinde, den man Bartimäus ruft, Sohn des Timäus. Sie alle, die nach Jerusalem wollen, müssen dort vorbeigehen, und er hat dort schon lange seinen Platz. Als Jesus, der Rabbi aus Nazareth, von dem er schon viel gehört hat, dort vorbeikommt, bricht, was an Hoffnung in ihm lebendig ist, aus ihm heraus: „Sohn Davids, Jesus, hab Erbarmen mit mir!“ (Mk 10,47). – „Ich möchte sehen können“ (Mk 10,51). Und es geschieht: Jesus wendet sich ihm zu, und die blinden Augen öffnen sich. Mag sein, dass dem Blinden nicht nur die Augen des Leibes geheilt, sondern auch die „Augen des Herzens" (Eph 1, 18) geöffnet wurden. Der Mann steht auf und folgt Jesus nach.
Warum erzählt Markus diese Geschichte seiner Gemeinde und damit auch uns? Ich meine, damit auch wir darum bitten, dass uns die Augen des Herzens, die Augen des Glaubens geöffnet werden. Aber wir sind doch nicht blind, sagen wir! Nicht ganz blind, wir glauben ja schon. Aber wir wissen auch, oft genug sind diese Augen verklebt und trübe. Und es geht nicht nur um unsere Augen, sondern um die Augen aller Menschen, denen das Licht des Glaubens aufgehen soll.
Heute ist „Weltmissionssonntag“. „Meine Hoffnung, sie gilt dir!“ (Ps 39,8), das ist das Leitwort in diesem Jahr. Es stammt aus einem alten Gebet, aus dem Psalm 39, dem König David zugeschrieben, der von der Not der Vergänglichkeit und der Schuld des Menschen spricht, und diese Not Gott hinhält. „Meine Hoffnung, sie gilt dir“ ist wie der Ruf des Blinden Bartimäus ein Schrei nach dem helfenden Gott.
Aber schauen wir noch einmal auf das Geschehen am Wegesrand bei Jericho. Wir können das, was der Evangelist Markus uns erzählt, wie eine dramaturgisch aufbereitete szenische Darstellung betrachten. Da sehen wir den blinden Bartimäus, wir sehen die umgebende Menge und wir sehen Jesus. Wie beschreiben wir die einzelnen Rollen der geschilderten Szene und welche der Rollen könnte unsere eigene sein?
Da ist „der Sohn des Timäus“. Dieser Mensch ist in jeder Hinsicht auf Hilfe angewiesen. Er muss Menschen seines Vertrauens finden, die ihn an der Hand nehmen und ihn führen. Er benötigt Spenden von barmherzigen Mitmenschen, um nicht an seiner eigenen Armut zugrunde zu gehen. Bartimäus ist in aller Radikalität, in seiner ganzen Existenz arm. Und das weiß er auch. Und: Er bedarf der Hilfe seines Gottes, ohne den er nicht leben würde und keine Hoffnung auf Rettung hätte. Auch das weiß er. Diesem Menschen wurde dieses innerste Wissen geradezu in die Wiege gelegt. Und weil Bartimäus genau weiß, dass er Hilfe braucht, verfügt er über zwei Fähigkeiten, die vielen Menschen fehlen, die aber für eine echte Begegnung mit Jesus nötig sind: Die eine dieser Fähigkeiten ist das Hören. „Hören können“ heißt: „Offen sein“. Er ist bereit für Überraschendes und Unerwartetes. Beim Sehen kann man selbst entscheiden, wohin man schaut. Beim Hören aber muss man offen sein für die noch so kleinste Wahrnehmung. Nur so kann Bartimäus von Jesus erfahren haben, nur so kann er wissen, was jetzt ansteht, denn Jesus ist in der Nähe. Die zweite Fähigkeit, über die Bartimäus verfügt, ist die Hoffnung auf Hilfe. Bartimäus schreit mit aller Kraft seine Hilfsbedürftigkeit hinaus und lässt sich darin nicht einmal von der Menschenmenge beirren, die ihn zum Schweigen bringen will. Er hört erst auf zu schreien, als Jesus sich ihm zuwendet. „Meine Hoffnung, sie gilt dir“ das ist der Ruf des blinden Bartimäus, der Schrei nach dem helfenden Gott.
Schau in dich, sagt mir diese Geschichte des Evangeliums! Bist du blind und siehst nicht, was du in deiner kleinen und in der großen Welt brauchst? Siehst du nur dich selbst und übersiehst du dein Bedürfnis nach Barmherzigkeit? Hast du eine Ahnung, woher der Sinn deines Lebens kommen kann? Machen dich die Angst vor der Welt und vor der Zukunft, die Furcht vor Überforderung und die Selbstzweifel auch noch taub und verschließen dich in dir selbst? Was bedeutet dann das Wort: „Meine Hoffnung, sie gilt dir“?
Da sind ja noch die anderen, die Menge. Sie sind auf das Event aus, die Show mit dem Rabbi aus Nazareth. Der Blinde ist für sie eine Belästigung. Erst als Jesus sich ihm zuwendet, begreifen sie, dass sie den um Hilfe rufenden Armen nicht einfach als einen Störenfried herumkommandieren und vertreiben dürfen. Und jetzt: „Hab nur Mut, steh auf, er ruft dich“ (Mk 10,49).
Ist das meine, deine, unsere Rolle? Und da frage ich: Höre ich noch auf die Not der anderen, auch wenn sie mir ungelegen kommt? Rufen wir im Namen Jesu die Leidenden zu uns oder verjagen wir sie im Namen unserer eigenen Bequemlichkeit? Worauf hofft die Menge?
Und da ist Jesus. Er fragt: „Was willst du, dass ich dir tue?“ (Mk 10,51).
Im Grunde fragt er das uns alle und nicht nur den Blinden.
Und es wird uns mit dieser Frage des Herrn bewusst: Auch wer über das Augenlicht verfügt und alle seine Sinne beherrscht, auch wer kaum materielle Sorgen hat, stößt in seinem Leben an Grenzen, die er nicht aus eigener Kraft überschreiten kann: Die Liebe, nach der ich mich sehne; die Vergebung, die ich in meiner Schuld benötige; die Hilfe für meinen Körper, wenn ich krank bin; die Zukunft, die mich ängstigt; und schließlich, als letzte aller Grenzen der Tod, vor dem all mein eigenes Tun kapitulieren muss.
Antworten wir dem Herrn mit unserer Hoffnung auf seine Hilfe? Muss ich nicht wie Bartimäus auch noch meinen letzten Schutz, den Mantel, abwerfen, um frei zu werden zur wirklichen Bitte? Kann ich meine Blindheit, mein Angewiesensein auf Hilfe, meine Armut und ebenso die Notwendigkeit der Hilfe für alle Menschen und für die ganze Welt akzeptieren, und so Gott voller Hoffnung, um seine Hilfe bitten? Wer das riskiert, der ist auf dem Weg, die Welt „mit neuen Augen“ zu sehen. Und da gilt auch der Satz des Evangeliums: „Geh, dein Glaube hat dich gerettet“ (Mk 10,52).
Die Geschichte des Bartimäus erzählt davon, und das macht letztlich unsere Berufung als Christen aus, dass wir einander und allen Menschen davon berichten, was diese Frage Jesu „Was willst du, dass ich dir tue?“ mit uns macht. Und indem wir unsere Erfahrung in Wort und Tat weitergeben, indem wir darauf hinweisen, dass uns die Hoffnung auf Gottes Hilfe in unserem Leben trägt, tragen wir das Licht dieser Hoffnung in unsere Welt.
„Meine Hoffnung, sie gilt dir!“ (Ps 39,8) – Dies selbst zu erfahren und zu sagen ist Mission!
Seien Sie gesegnet und behütet in der Liebe des Herrn!
Ihr P. Guido