...hatte er Mitleid mit ihnen...
Predigt zum 11. Sonntag im Jahreskreis (A) – Mt 9, 36 – 10,8
Es ist eine Sache, liebe Mitchristen, den Text eines für den Gottesdienst vorgegebenen Evangeliums mit den Augen des auf die Zeit seiner Entstehung oder auf die Geschichte Jesu fixierten Betrachters zu lesen und eine andere Betrachtungsweise, wenn wir mit dem vorgefundenen Befund dieser Textstelle überlegen, was er uns heute zu sagen hat.
Das Evangelium, das uns heute begegnet, befasst sich mit dem Missionsauftrag Jesu an die Jünger. Dieser Auftrag geht unmittelbar auf Jesus zurück. Sein Beweggrund, die Apostel auszusenden, ist sein Mitleid, heißt es doch: „…als Jesus die vielen Menschen sah, hatte er Mitleid mit ihnen; denn sie waren müde und erschöpft wie Schafe, die keinen Hirten haben“ (Mt 9, 36). Genauso unmittelbar mit ihm verbunden ist auch das Geschenk der Vollmacht, dem Bösen entgegenzutreten und Krankheiten und Leiden zu heilen (vgl. Mt 10, 1.17f). Dass er sie zuerst zu den Menschen in Israel sendet, bedeutet nicht, dass Gottes Heil nicht für alle Menschen gedacht ist. Da geht es nicht um Ausgrenzung, sondern um ein Nacheinander: Zuerst kommen die Menschen, zu denen sich Jesus gesandt weiß und die entsprechend der ursprünglichen Berufung im Bund Gottes für die Welt, das „Heilszeichen“ sein sollen. Johannes wird später sogar sagen: „Das Heil kommt von den Juden!“ (Joh 4, 22). Hier ist die Hand des Evangelisten Matthäus greifbar, für den über seinem ganzen Evangelium wie in einem Scheinwerferlicht die Gestalt Jesu als des verheißenen Messias steht, der alles, was Gott seinem Volk zugesichert hat, erfüllt, der aber, wie sich in der Geschichte Jesu und auch der jungen Kirche zeigt, von Israel abgelehnt wird (vgl. Mt 21, 43; 23,23).
Mitleid Jesu und damit der Hinweis auf Gottes barmherzige Liebe ist der erste Aspekt, den wir auch für uns heute betrachten müssen. Hier wird etwas über die Motivation Jesu und damit die Beweggründe Gottes in der Beziehung zum Menschen ausgesagt. Der Mensch, der sich von Gott entfernt, sei es ganz konkret, indem er mit Gott nichts zu tun haben will, oder auch durch verflachende Gewohnheiten in der Praxis seines vorhandenen Glaubens, verliert Lebensorientierung und Lebensqualität. Er wird oberflächlich und haltlos und ist auf sich selbst zurückgeworfen. Der Kampf um sein bisschen Leben bestimmt ihn und seinen Alltag. Jesu Mission und damit auch der Auftrag an seine Jünger ist es, Gott neu in den Blick der Menschen zu bringen, damit sie für ihr Leben neuen Halt und Orientierung finden können. Wie Jesus selbst sollen die Jünger das Wohlwollen Gottes heilend den Menschen eröffnen. Es geht also um die von Jesus gesandte Gruppe von Menschen, die selbst zeichenhaft die Güte und Zuwendung Gottes zum Menschen deutlich machen soll. Dass gerade in diesem Zusammenhang die konkreten Namen der Apostel bis hin zu Judas dem Verräter genannt werden, macht zudem klar: Es ist der vom Herrn gegebene Auftrag an die Kirche, an die konkrete Gemeinschaft des Glaubens, an dich und mich, an jeden Getauften, die Güte und Zuwendung Gottes zum Menschen sichtbar zu machen. Der heilige Franziskus von Assisi hat diesen Auftrag an seine franziskanischen Brüder einmal so formuliert: „Verkündet Gottes Liebe und, wenn es sein muss, auch mit Worten!“ Gerade in diesen Tagen, wo viele strukturelle Probleme, wo Gemeinde- und Kirchenentwicklung diskutiert werden, lese ich aus dem Auftrag Jesu heraus, dass es zuerst im Blick auf die eigene Berufung und den geschenkten Fähigkeiten darum gehen muss, das eigene Christsein konkret zu leben. Das Mitleid des Herrn muss unser Mitleid sein und werden! Ich kann verstehen, wenn in diesem Zusammenhang Papst Franziskus eindringlich davon spricht, dass die Kirche wie ein Lazarett im Kampf der Menschen um das Leben in dieser Welt sein muss… Den Auftrag Jesu erfüllen wir durch die täglichen kleinen und auch größeren Wunder der Liebe. So notwendig auch Strukturdebatten in der Kirche sein mögen, wenn sie uns nicht näher zum Liebesauftrag des Herrn führen, sind sie nicht zielführend.
Kirche als Gemeinschaft der Glaubenden, als ‚Volk Gottes unterwegs‘ und als das ‚Neue Israel‘, wie es das Zweite Vatikanische Konzil formuliert hat und ganz ähnlich die Würzburger Synode in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, muss „Licht der Völker“ und „Hoffnungszeichen“ sein. Oder wie es der vor 25 Jahren vom Papst aus seinem Amt als Diözesanbischof enthoben Bischof Jaques Gaillot (Evreux) sagte: „Eine Kirche, die nicht dient, dient zu nichts!“
Der heutige missionarische Auftrag der Kirche, liebe Mitchristen, - und auch das finde ich im Evangelium dieses Sonntags – hat sich allerdings zuerst um die in Gewohnheitstrott und Oberflächlichkeit gefangenen Christen zu bemühen, so wie die Jünger von Jesus den Auftrag erhielten, zuerst zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel zu gehen. Gerade weil die Christen heute „Heilszeichen“ – analog zum Judentum zu Zeit Jesu und dann der matthäischen Gemeinde! – sein müssen, deute ich den Auftrag Jesu an die Jünger als Auftrag an alle, die ernsthaft versuchen, den Glauben an die Nähe Gottes alltäglich in der Gegenwart zu leben. Das bezieht sich sicher auf jene, die ein Amt oder eine Beauftragung für die Gemeinde haben. Aber nicht nur auf sie. Ebenso bezieht es sich auf jeden Christen, der die Gemeinschaft mit dem Herrn sucht und sie zu leben sucht. Wir brauchen sichtbare Gruppen in unseren Gemeinden, Menschen, die ihre Erfahrungen mit dem Glauben mitteilen und miteinander teilen, im Tun der Liebe und, „wenn es sein muss auch mit Worten“, wie der hl. Franziskus sagt. Jene, die sich schon einbringen in den lebendigen Leib des Herrn, will ich ermutigen, nicht nachzulassen. „Bittet den Herrn der Ernte, Arbeiter für seine Ernte auszusenden“, sagt Jesus und „umsonst habt ihr empfangen, umsonst sollt ihr geben“ (Mt 9, 38. 10, 8c). Uns Christen kennzeichnen die Liebe und das Gebet. Wenn wir nicht dienen, dient auch unser Glaube zu nichts! Er wäre pure Show und Selbstbefriedigung. Begreifen wir, dass es eine Gnade, ein unglaubliches Geschenk ist, dass wir in unserem Glauben an die Liebe und Güte Gottes, seine Botschaft des „Lebens in Fülle“ leben und weitergeben dürfen? Nicht nur unsere Kinder und jungen Mitmenschen, auch die Familien und Lebensgemeinschaften, die Alten und Kranken, die Behinderten und psychisch Kranken, wir alle dürfen und müssen vom Herrn her füreinander glaubwürdige Zeugen der Hoffnung sein. Er sendet uns zueinander. Also müssen wir mit Blick auf ihn selbst ‚zerbrochenes Brot‘ füreinander werden. Wenn in mir eines aus den Erfahrungen der letzten Monate mit der Virus-Pandemie angestoßen wurde, dann ist es die Erkenntnis: So gut und großartig z.B. Gottesdienste in den Medien und alles virtuelle Geschehen auch sind. Sie ersetzen niemals die konkrete Begegnung der Menschen. Das gesprochene Wort – so wichtig es ist – macht niemals satt wie das Brot, das mir in die Hand gegeben wird!
Der Herr steht uns zur Seite und sendet uns! Seien Sie gesegnet und behütet! Ihr P. Guido