Hast du ihn endlich gefunden?
2. Sonntag der Osterzeit – Apg 4,32-35 u. Joh 20,19-31
Zwei Mönche studierten in der großen Bibliothek ihres Klosters. Generationen von Mönchen hatten viele gedruckten geistigen und spirituellen Schätze zusammengetragen. Die beiden lasen und studierten vom frühen Morgen bis zum Abend, bis das Licht schwand. Längst waren ihre Augen müde und die Herzen alt geworden. „Mein Gott“, seufzte der eine. Und der andere fragte: „Hast du ihn endlich gefunden?“ (Quelle unbekannt).
„Mein Gott!“ – der Seufzer klingt nur so ähnlich wie der Ausruf des Apostels Thomas: „Mein Herr und mein Gott!“ (Joh 20,28). Im Ausruf des Thomas steckt mehr. Oft wird dieser Ausruf als Ruf der Freude im Erkennen des Auferstandenen gedeutet. Seine skeptisch zweifelnde Haltung scheint jetzt überwunden. Aber ist das wirklich so? Könnte die hier ausgedrückte Betroffenheit nicht auch ein anderes und tieferes Erkennen ausdrücken? „Wenn ich nicht das Mal der Nägel an seinen Händen sehe und wenn ich meinen Finger nicht in das Mal der Nägel und meine Hand nicht in seine Seite lege, glaube ich nicht“ (Joh 20,25). So hatte Thomas seine Forderung an seinen Erkenntnisprozess des Auferstehungsgeschehens formuliert. Und jetzt lädt ihn der Herr ein, genau das zu tun. Der Evangelist erzählt nicht, ob Thomas dem Wort Jesu nachgekommen ist und seine Finger in die Wunden und seine Hand in die Seite Jesu gelegt hat. Da ist nur dieser Ausruf. Natürlich, hier soll festgestellt werden, dass der Auferstandene auch der Gekreuzigte ist. Der Auferstandene ist mit dem Gekreuzigten identisch. Die Wunden sind dafür das Zeichen. Das ist die eine Ebene der Deutung. Da gibt es aber noch eine andere Ebene. Sie ist vergleichbar dem, was Maria von Magdala in ihrer Begegnung mit dem Auferstandenen erfuhr als der zu ihr sagte: „Halte mich nicht fest!“ (Joh 20,17). Erinnern wir uns, was der Evangelist aufgeschrieben hat: Maria von Magdala musste durch ihre Trauer und ihre durch den Verlust ihres Meisters entstandene eigene Verletzung hindurchgehen, sie musste zur Verkündigerin für die Apostel werden, um zu begreifen, dass der Auferstandene lebendig und erfahrbar ist im erlittenen und geteilten Glauben. Ich nenne diesen Glauben einen „erlittenen“, weil er immer auch der angefochtene und erkämpfte Glaube ist. Das scheint mir ein zutreffenderer Ausdruck als das Wort „Zweifel“. Der durch die Auferstehung neu lebende Jesus Christus öffnet uns die Augen: Die Wunden Jesu und die eigenen Verletzungen der Auferstehungszeugen sind gewissermaßen wie die tragenden Pfeiler einer Brücke, die den Abgrund des Nichtverstehens und des Nichtbegreifens dieses unfassbaren Geschehens der Auferstehung zu überwinden helfen. Hier wird ein Weg der Erkenntnis sichtbar. Vergleichbar ist auch, was wir bei Lukas in der Begegnung des Auferstandenen mit den Emmausjüngern lesen, als er sie unterwegs über den Sinn des Leidens aus der Tradition der hl. Schrift belehrte: „Musste nicht der Christus das erleiden und so in seine Herrlichkeit gelangen?“ (Lk 24,26). Ähnliches finden wir auch in den Lebensgeschichten vieler Heiliger bis in unsere Tage: Bei der kleinen Therese von Lisieux beispielsweise ist wie bei Johannes vom Kreuz von der dunklen Nacht der Seele die Rede, oder eine Mutter Therese von Kalkutta ging über weite Strecken ihres hingebungsvollen Lebens als Licht für die Armen und Sterbenden im Dunkel und der Erfahrung der Finsternis einer Art Gottverlassenheit. Dennoch konnte die kleine Therese in ihren Aufzeichnungen aufschreiben: „Trotz dieser Prüfung kann ich noch ausrufen wie es im Psalm heißt: Du, o Herr, erfüllst mich mit Freude durch all dein Tun! (vgl. Ps 91) und Mutter Theresa fand Beruhigung im Blick auf den Tabernakel. Was den Erkenntnisprozess voranbringt und was die Augen hinein in die österliche Glaubenserfahrung öffnet, ist das innere Begreifen, dass sich in all den Wunden und Verletzungen der Welt auch die Wunden und Verletzungen des Gekreuzigten und von Gott zum neuen Leben auferweckten Herrn erkennen lassen. Selbst in der tiefsten Dunkelheit ist er da, weil er in sie hineingegangen, weil er durch sie hindurchgegangen ist. Genau damit kommt er allen Menschen zu allen Zeiten nahe, auch uns.
Der Ausruf des Thomas scheint mir so tatsächlich ein Ruf der Überraschung zu sein. Weil der Auferstandene die schrecklichen Wunden, die ihm zugefügt wurden, sichtbar beibehält, gerade deshalb geben die Wunden, die Menschen geschlagen und zugefügt werden und die uns oft genug selbst ins Leiden hineinführen, Anstoß für den Glauben an den auferstandenen Herrn. Denn stets ist er es, der in seinem Menschsein mitgetroffen wird, dort, wo Menschen verwundet werden, sei es körperlich oder seelisch, und genau dort offenbart sich seine Gegenwart. Das hat Thomas offensichtlich erkannt. Das hat ihn überrascht. Thomas hat so ein wunderbares Glaubensbekenntnis ausgesprochen: „Mein Herr und mein Gott!“ – Er hat den Auferstandenen, er hat Gott wirklich gefunden und erkannt – ganz anders als der eine müde Mönch in der kleinen Geschichte von den beiden Mönchen.
Es ist sicher so, dass wir in Büchern oder anderen Zeugnissen wichtige Hinweise auf den Auferstandenen Herrn finden. Aber wirklich begegnen wird er uns dort, wo wir uns den oft schrecklichen Problemen der Menschen und den quälenden Fragen unserer Welt und unseres Lebens stellen. Denken wir an die Worte des Evangelisten Matthäus: Was ihr für einen meiner geringsten Brüder und Schwestern getan habt, das habt ihr mir getan (vgl. Mt 25,31-46). Der Evangelist Johannes macht es deutlich: Die Christengemeinde ist keine problem- oder fraglose Gemeinschaft. Aber gerade in diese manchmal ängstliche Gemeinschaft hinein und nicht dorthin, wo man alles weiß, und keine Fragen hat, kommt der Auferstandene, um zu sagen: „Friede sei mit euch!“ Der Friede Christi, die Gegenwart des Auferstandenen bringt uns zusammen und führt uns weiter: Verletzte und Verwundete, Gequälte und Leidende, Glaubende und Fragende, Suchende und Ahnende. Und dann kann uns ein Licht aufgehen, das Osterlicht der Überraschung und wir rufen wie Thomas aus: „Mein Herr und mein Gott!“
Seien Sie gesegnet und allzeit behütet!
Ihr P. Guido