Fragen, die auch heute umtreiben
Predigt zum 17. Sonntag im Jahreskreis – C – Kol 2,12-14 und Lk 11,1-13
„Herr, lehre uns beten!“ (Lk 11,1).
Die Bitte der Jünger, spricht die Praxis des Gebetes an. Wie bete ich richtig? Wie kann ich überhaupt beten? Das sind Fragen, die auch heute umtreiben. Ich erinnere mich an einen Patienten im Krankenhaus, den ich als Seelsorger dort besuchte, und der mich am Ende unseres kleinen Gespräches bat, für ihn zu beten, er selbst könne es nicht mehr, sagte er, da ihm die Worte fehlten, er habe sie verloren. Wir haben dann zusammen das „Vaterunser“ gesprochen, nachdem ich ihm gesagt hatte, dass bei diesem Gebet Jesus selbst durch uns beten würde. So inständig habe ich selten jemand beten sehen wie diesen Kranken. Sicher war der Kranke durch seine persönliche Situation besonders motiviert. Das „Vaterunser“ ist nicht nur das Gebet für uns Christen. Es ist auch eine Gebetsschule. Der Evangelist Lukas nimmt uns mit in diese Schule. Schauen und hören wir hin.
Jesus empfiehlt zunächst so etwas wie Grundhaltungen: Wer beten lernen will, soll Gott als den ganz anderen zuerst einmal wirklich ernst nehmen und er darf ihn trotzdem innig als „Vater“ anreden. Jesus selbst hat das gelebt. Jesus war und ist Mensch unter Menschen, mit ihnen und für sie. Aber er ist - wie ihn uns die Evangelien vorstellen - ein Mensch mit und für Gott. Zärtlich nennt er Gott seinen „Abba“ - seinen lieben Vater. Er ist der alles überragende Bezugspunkt seines Lebens.
Die erste Grundhaltung des Gebetes ist es also, Gott als Gegenüber, als Freund und engsten Vertrauten zum Bezugspunkt des Lebens zu machen. Genau hier gibt es für viele ein Problem. Das „göttliche“ Du kommt für viele nicht in den Blick, weil sie besetzt sind, besetzt von den Dingen der Welt oder von sich selbst. Seien wir ehrlich: Wir alle haben eine hohe Aufmerksamkeit uns selbst gegenüber. Oft aus Angst, nichts zu sein und nicht beachtet zu werden wenden wir uns der eigenen Gesundheit, dem eigenen Leib, dem eigenen Wohlergehen, den eigenen Problemen, eben uns selbst als dem Maß aller Dinge zu. Und wenn man nicht mehr hat als sich selbst, ist man nur sich selbst allgegenwärtig. Damit aber muss man auch für sich selbst alleiniger Sinngeber, Tröster und Retter sein. Das aber ist eine totale Überforderung und so etwas wie eine Lebenslüge. Denn der Mensch ist immer auf andere bezogen, sich selbst allein genügt er nicht. Übrigens: Von den Dingen erfahren wir unseren Selbststand nicht!
Dazu kommt: Wir brauchen das Wort und den liebenden Blick von jemand der nicht nur außerhalb unseres eigenen Selbst ist. Wir brauchen darüber hinaus die Zuwendung von Jemand, der über allem steht und uns dennoch kennt und annimmt, der uns also absolut liebt. Menschliche Zuwendung allein ist bei allem Wollen doch brüchig und vergänglich. Wir brauchen das Wort und die Liebe Gottes, und zwar des Gottes, den Jesus verkündigt und der die Liebe selbst ist! Nur wenn wir unseren engen und auf die Welt begrenzten Raum öffnen und übersteigen, werden wir frei vom dauernden angstbesetzten Kreisen um uns selbst. Im Sinne Jesu heißt also Beten - und das ist die zweite Grundhaltung - die Liebe Gottes wahrnehmen, mit der er uns bis zum äußersten liebt, so banal uns unser Leben auch zu sein scheint. Wenn wir Gott als unseren Vater anreden (wobei die Anrede hier nicht geschlechtsspezifisch gemeint ist, die Anrede Gottes als Mutter wäre in diesem Sinne auch analog möglich) dann sehen wir mit ihm Gott als Vater ALLER Menschen. Das weitet den Blick noch einmal. Alle Menschen sind Kinder des einen Vaters, dazu berufen, als Schwestern und Brüder miteinander zu leben. Genau damit nimmt das Beten Jesu Bezug auf die endgültige Gemeinschaft der Menschheitsfamilie, die sich - wie Jesus sagt: im Reich der Himmel vollenden wird. Und das ist die dritte Grundhaltung des Betens: Beten im Sinne Jesu hilft uns zu begreifen, dass diese Welt, so wie sie sich erfahren und wahrnehmen lässt, nicht schon alles ist, sondern ein Ziel hat, die Vollendung, das letzte Heilwerden in Gott. Genau das hilft uns, dass wir mit ihm, mit Gott, arbeiten an der Vollendung der Welt, indem wir selbst entsprechend unserer Fähigkeiten und Möglichkeiten mehr Liebe in die Welt tragen und konkret etwas tun für Frieden, für Gerechtigkeit und das Wohlergehen aller.
Die anderen Bitten des „Vaterunser“ machen die genannten Grundhaltungen konkret: die gelebte Liebe soll dem, was Gottes ist, zum Durchbruch in der Welt helfen: Dein Reich komme, beten wir, um die Welt auf Gott hin offenzuhalten; die Bitte um das tägliche Brot soll entlasten von allzu viel Sorge um das Überleben; die Anregung zur Vergebung soll uns anzeigen, dass wir selbst aus der Vergebung unserer Schuld leben und die Bitte um Bewahrung vor der Versuchung, soll uns an die treue Sorge des himmlischen Vaters erinnern.
Das Beten, in das Jesus die Jüngerinnen und Jünger und damit uns hineinnimmt, nimmt Gott beim Wort in seiner Verantwortung für sein geliebtes Geschöpf, den Menschen.
Das „Vaterunser“ spricht entscheidende Grundbedürfnisse des Menschen an. Frieden und Gerechtigkeit, liebevolles Miteinander, Heilung an Leib und Seele. Jesus macht uns Mut, um all das zu bitten und es nicht nur für Wunschträume zu halten. Als Gottes Kinder dürfen wir den Vater um alles bitten, was wir erstreben und wirklich brauchen. Und indem wir so Gott unser Innerstes öffnen, geben wir ihm Raum in unserem Leben, Raum, in dem auch wir wirklich zum Leben kommen. Simone Weil, die französische Philosophin jüdischer Herkunft (1909–1943), sagte einmal über das „Vaterunser“: „Das Vaterunser enthält alle je möglichen Bitten. Es ist als Gebet, was Christus als Mensch ist. Es ist unmöglich, das Vaterunser einmal zu sprechen und dabei auf jedes Wort die Fülle der Aufmerksamkeit zu richten, ohne dass in der Seele eine – vielleicht unendlich kleine – aber wirkliche Veränderung bewirkt wird.“
Und ich möchte anfügen: Wenn wir das „Vaterunser“ beten, dann betet wirklich Jesus in uns.
Seien Sie gesegnet und behütet! Ihr P. Guido
Hier ein Hinweis auf eine wunderbare Auslegung des „Vaterunser“: Gerhard Lohfink „Das Vaterunser neu ausgelegt“, Stuttgart 2012 (Bibelwerk)