Doch wir sind nicht allein gelassen
Predigt zum 5. Ostersonntag – C – Offb 21,1-5a und Joh 13,31-33a.34-35
Die ersten Verse unseres heutigen wiederum kurzen Evangeliums zeigen, dass der Evangelist Johannes gerne mit Worten spielt, etwa mit dem Stilmittel der Wortwiederholung. Aber für uns baut die gleich fünffache Aufzählung des Verbs „verherrlichen“ eher eine Mauer des Unverständnisses auf – zumal es in unserer Alltagssprache kaum mehr vorkommt. Was bedeutet denn dieses Wort wirklich? Unser deutsches Wort kommt an die tatsächliche Bedeutung des griechischen Wortsinnes nicht heran. Ich entscheide mich deshalb dazu, die beiden ersten Verse einmal beiseitezulassen und richte mein Augenmerk auf die verbleibenden Verse unseres Evangeliums, in denen Jesus sein „neues Gebot“ vorstellt: „Liebt einander! Wie ich euch geliebt habe, so sollt auch ihr einander lieben“ (Joh 13,34). Das ist ein gutes Wort. Aber, so mag man einwenden: Auch wenn es ein gutes Wort ist, so wird es mit diesem Wort jetzt doch nicht leichter als mit dem ausgeschlagenen „verherrlichen“. In der Tat: zu viel wird über sie geredet, über die Liebe, so viel, dass sie andauernd in Gefahr ist, zerredet zu werden. Dennoch: Nur wenn wir wirklich lieben, sagt Jesus, „werden alle erkennen, dass ihr meine Jünger seid“ (Joh 13,35). Um zu zeigen, wie das zu verstehen ist, muss man trotzdem wieder reden. Das ist das Dilemma; das ist die „liebe Not“ mit diesem Wort.
Im sogenannten „Hohenlied“ des Alten Testamentes heißt es: „Stark wie der Tod ist die Liebe“ (Hld 8,6).Die Botschaft von Ostern besagt darüber hinaus allerdings: Die Liebe ist stärker als der Tod. Allzu viel ist in der Verkündigung vom Zweck des Todes Jesu die Rede gewesen: Er ist gestorben, um zu „sühnen“, um uns von unseren Sünden zu „erlösen“, so heißt es. Wir müssen aber weniger nach dem Zweck fragen, weil sich der Tod Jesu nicht „verzwecken“ lässt. Vielmehr geht es bei all dem um den tieferen Sinn seines Leidens und seines Todes.Denn nur so erkennen wir, dass sich im Sterben Jesu enthüllt, worauf sein ganzes Leben ausgerichtet ist: auf die absolute Hingabe an Gott und an die Menschen, die sein Vater ihm aus der Welt anvertraut hat (vgl. Joh 17,6). Was Jesus verkündet, was er durch seine Zeichen bekräftigt und wofür er kompromisslos eintritt, ist die Frucht seiner innigen Beziehung zum Vater. Er geht liebend und, wie die Apostelgeschichte von ihm sagt, „Gutes tuend durchs Land“ (Apg 10,38), weil er sich selbst absolut geliebt und angenommen weiß. Der Theologe Eugen Biser nennt es die „zentrale Lebensleistung“ Jesu, dass er „den Schatten des Angst- und Schreckenerregenden aus dem Gottesbild der Menschheit getilgt“ und „das Antlitz des bedingungslos liebenden Vaters zum Vorschein“ gebracht hat. Und das leuchtet in keiner Stunde seines Lebens heller auf als in der seines Kreuzestodes. Denn da ereignet sich, was in einer Welt, die nur um sich selbst kreist, noch nie der Fall gewesen ist: „der Sonnenaufgang einer bedingungslosen Liebe“, der es darum geht, die Herzen zu verwandeln. (So Eugen Biser in: Überwindung der Glaubenskrise, München 1997, S.17ff.)
Deshalb lädt Jesus seine Jünger ein, einander zu lieben, wie er sie geliebt hat, und nennt diese Einladung sein neues Gebot. „Gebot“ und „Gesetz“ haben für unser Sprachempfinden den beinahe gleichen Klang. Sie klingen wie amtliche Erlasse. Tatsächlich aber versteht Jesus sein Gebot als An-Gebot und nicht als Zwang, als Angebot, das, wie schon gesagt, die Herzen der Seinen zu verwandeln vermag. Auch wenn das jetzt utopisch klingt und deshalb sage ich es im Konjunktiv: Wenn wir wirklich liebten, dann wären viele alltägliche Verhaltensweisen unter den Jüngerinnen und Jüngern Jesu nicht mehr möglich und nicht nur unter ihnen. Ich denke an Misstrauen, Neid, Missgunst, kurz an all das, was zwischenmenschliche Beziehungen so häufig verdüstert oder vergiftet. Freigesetzt aber würden bei wirklicher Liebe: Vertrauen, Hilfsbereitschaft, Einsatz für eine menschlichere Welt, Bereitschaft zu geben,ohne jeweils Dank und Gegenleistung zu erwarten. Würde das neue Gebot Jesu, „ihr sollt einander lieben!“, so befolgt, hätte das eine revolutionäre Klimaänderung im menschlichen Verhalten zur Folge, weil daran „alle erkennen“ könnten, dass wir wirklich „seine Jünger“ sind.
Wird das Gesagte möglich oder bleibt es nur Wunschdenken? Man mag skeptisch sein. Aber es ist möglich, weil Jesus seinem An-Gebot „liebt einander!“ hinzufügt: „wie ich euch geliebt habe“ (Joh 13,34b). Das ist nicht nur das Maß, sondern auch das Motiv. Und auf dieses Motiv kommt es an, denn es gibt uns den notwendigen Impuls im Sinne Jesu zu handeln. Die Skepsis bezieht sich auf uns selbst, weil wir, auf uns selbst gestellt, es nicht schaffen. Doch wir sind nicht allein gelassen; wir sind von ihm geliebt. Gott bestätigt diese bis zum Äußersten gehende Liebe, indem er seinen Sohn nicht im Tod lässt. Die Liebe ist also stärker als der Tod. Das ist die Botschaft von Ostern. Das ist der Kern unseres Glaubens. Skepsis hin oder Skepsis her. Damit wir uns der Liebe Gottes in Jesus bewusst sind und in ihr bleiben, sendet er uns seinen Geist ins Herz. Von dieser Liebe getragen, werden wir uns auch nach Niederlagen neu – wenn auch immer unzulänglich – bemühen, einander mit den liebenden Augen Gottes zu sehen und mit seinen Maßstäben zu messen. Das bleibt die Berufung und Aufgabe als Christ.
Klar, das ist – weiß Gott! – nicht so einfach! Vielleicht sind da zu viele Enttäuschungen und sind Wunden schlecht vernarbt. Da ist das Herz ausgebrannt und die innere Leere zu groß. Dann ist es schwer, an diese Liebe noch oder wieder zu glauben und sich auf sie einzulassen. Aber sie ist möglich, und immer wieder zeigt sie sich.
In einem Buch der österreichischen Journalistin Dolores Bauerheißt es zu solcher Liebe: „Immer wieder ist sie aufgeblüht, trotz Blut und Tränen, trotz Gewalt und Not, trotz allem Kriegsgeheul und Geschützdonner. Ziemlich zerfetzt und aus vielen Wunden blutend, hat sie sich durch die Zeit geschleppt; vergewaltigt und tausendfach geschändet und entehrt, ist sie durch Trümmer geschlichen und an dornigen Büschen entlang. Aber sie lebt, hat überlebt bis heute.“ (D. Bauer, Erfüllte Zeit, Mödling-Wien 1996)
Gerade in unseren Tagen sind solche Worte höchst aktuell! Die Liebe, für die Jesus durch den Tod gegangen ist, hat nicht nur überlebt. Sie lebt weiter in jeder und jedem auf den Spuren des Auferstandenen, denn: „Die Liebe ist stärker als der Tod.“ Das ist die nie endende Botschaft von Ostern. Dafür sind wir vom Herrn berufen als Zeugen seiner Liebe in der Kraft des Heiligen Geistes. Er wird uns leiten.
Bleiben wir in seiner Liebe und so geborgen und behütet! Ihr P. Guido