Predigt zum 31. Sonntag im Jahreskreis (B) – Dtn 6, 2-6 und Mk 12, 28b-34
„Alles menschliche Tun, sogar die Sünde, ist eine Suche nach Gott, nur sucht man ihn meistens dort, wo er am wenigsten zu finden ist ... Unser Sein“, so sagte es einmal Ernesto Cardenal, der lateinamerikanische Priester, Dichter und Revolutionär (1925-2020), „ist entworfen, um Gott zu lieben, um ihn zu besitzen und ihn zu genießen, wie die Makrele entworfen wurde zum Schwimmen und die Möwe zum Fliegen. Der Mensch ist nicht zum Genießen dieser Erde, sondern zum Genießen Gottes erschaffen. Und darum sind wir nur mit Gott glücklich.“ (Ernesto Cardenal, Aus: Ders., Das Buch von der Liebe. Peter Hammer Verlag, Wuppertal, Neuausgabe 2004)
Was hier so eindrücklich angesprochen wird, macht uns deutlich, dass die Grundkraft des menschlichen Seins, ja, der ganzen menschlichen Existenz, die Liebe ist. In ihr vollendet sich die ansonsten unstillbare Sehnsucht nach dem Erkannt-Werden und völligen Angenommen-Sein. Papst Benedikt XVI. hat in seiner Enzyklika „Deus caritas est“ (2005) diesen Gedankengang in drei Stufen dargestellt, die, indem sie aufeinander aufbauen, sich durchdringen und übersteigen, die Vollgestalt der Liebe bilden: Da ist der Eros, die sexuelle und begehrende Liebe, da ist die Agape, die teilende und sozial mitteilende Liebe und da ist die Caritas, die selbstlose und reine sich verschenkende Liebe. In dieser Zusammenschau wird deutlich: Nur in der Liebe verwirklicht sich, was der Mensch ist. Theologisch weitergedacht ist es nur konsequent, wenn es im 1. Johannesbrief heißt: „Gott ist die Liebe, und wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott, und Gott bleibt in ihm“ (1Joh 4,16).
Wenden wir uns jetzt dem zu, was das Evangelium des Markus aus dem Gespräch eines Schriftgelehrten mit Jesus über das wichtigste Gebot erzählt. Wer sich den Text vor Augen hält, sieht sofort, dass Jesus hier einem Schriftgelehrten mit großer Sympathie begegnet – sonst ist er ja eher in heftige Streitgespräche mit dieser Gruppe verwickelt. Wie es scheint, beschäftigt den Schriftgelehrten die Frage nach dem wichtigsten Gebot tatsächlich, denn Jesus antwortet ihm völlig ernsthaft, indem er den Anfang des „Schema Israel“ zitiert, eines Textes, den jeder gläubige Jude bis heute zweimal täglich im Gebet spricht: „Höre Israel, der Herr, unser Gott, ist der einzige Herr. Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit deinem ganzen Denken und mit deiner ganzen Kraft.“ Jesus zitiert, was der Schriftgelehrte gut kennt und sagt damit: Das erste Gebot von allen ist die Gottesliebe, die nur umfassend, ungeteilt und einzigartig sein kann. Wer sie aus dem Zentrum rückt, bringt den Glauben um seinen Sinn. Denn der jüdisch-christliche Glaube lebt aus der Verehrung Gottes, die Ausdruck der Gottesliebe ist. Ohne die von Herzen kommende Gottesliebe würden alle Gebote und Bekenntnisse zu bloßen Formeln und leeren Ritualen. Damit aber nicht genug. Für Jesus gehört zur Gottesliebe noch etwas entscheidend dazu und er spricht es auch aus: „Das Zweite: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ (Mk 12,31). Dieses Gebot findet sich auch im Buch Levitikus des Alten Testamentes (vgl. Lev 19,18). Nur bezieht sich dort das Gebot auf die Nächsten der eigenen Familie und die Stammesgenossen. Jesus aber hat alle Menschen im Blick. Das Entscheidende aber, das hier im Evangelium durch Jesus ausgesprochen wird, ist die untrennbare Verbindung der Gottes- und der Nächstenliebe. Für diese Verbindung steht Jesus selbst: Er weiß sich von Gott, seinem himmlischen Vater, umfassend angenommen und geliebt. In ihm ist die Gottes- und Nächstenliebe vollendet und Jesu eigenes Leben und Sterben ist die Antwort auf die Liebe des Vaters. Das überträgt sich auch auf die Liebe zum Nächsten, zum Mitmenschen, ja, zu allen Menschen. Wer wie Jesus so innig in und aus Gott lebt, der lebt die Liebe, die Gott ist. Das wahrzunehmen, rührt zutiefst an das Geheimnis der Person Jesu: Das Göttliche durchdringt das Menschliche; Gott ist einzigartig in Jesus und Jesus ist die menschgewordene Liebe Gottes.
Der Schriftgelehrte hat Jesu Wort, genauer gesagt, er hat Jesus verstanden. Wie in einer Schulstunde oder einer akademischen Disputation wiederholt er die Antwort, würdigt und kommentiert sie zustimmend. Er hat begriffen: Es geht um mehr als um irgendwelche religiösen Handlungen oder Opfer, es geht um echten Glauben, der allein aus der Liebe lebt.
Es ist ein überaus ermutigendes Lob, dass Jesus nun zu ihm sagt: „Du bist nicht fern vom Reich Gottes“ (Mk 12,34). Jesus hat das Gespräch mit dem Schriftgelehrten an eine letzte Erkenntnis und Entscheidung herangeführt, die auch für uns wichtig ist: Es gibt keine zwei Weisen zu lieben. Man kann die Nächstenliebe und die Gottesliebe nicht trennen. Es gibt nur die eine Liebe Gottes. Und hier schließt sich – wenn man so will – der Kreis, der weit über das Gespräch Jesu mit dem Schriftgelehrten hinausreicht, hinein in jedes Christenleben. Ja, wir Menschen sind entworfen und geschaffen, um zu lieben. Die Liebe ist der Weg zur Erkenntnis Gottes.
Für jeden, der sich auf den Weg der Nachfolge Jesu macht, gibt es nur diesen Weg in und mit Jesus, den Weg der ungeteilten Liebe, der Gottes- und Nächstenliebe im Bewusstsein des eigenen Angenommen- und Geliebt-Seins von Gott.
Diese Liebe ist eine Gabe, die von Gott selbst kommt und uns mit ihm verbindet. Ernesto Cardenal hat recht, wenn er sagt, dass unser menschliches Sein entworfen ist, um Gott zu lieben. Denn wer Gott wirklich liebt und ihn genießt, muss auch die Menschen und die Welt lieben, die Gott geschaffen hat. Darin finden wir das tiefste menschliche Sehnen und Suchen erfüllt: Gott, der die Liebe selbst ist, will durch uns und unser Lieben wirksam werden.
Wenn wir das mit Herz und Verstand auch nur annähernd begreifen, dann gilt auch uns das Wort Jesu: „Du bist nicht fern vom Reich Gottes!“
Natürlich wissen wir, dass es uns schwachen Menschen nur bruchstückhaft gelingt, diese Liebe so innig zu leben. Aber seien wir getröstet: Er, der uns und unsere Schwachheit kennt und uns als seine Kinder angenommen hat, ist selbst die Liebe. Also wird er mehr noch als ein guter Vater und eine liebende Mutter unser Bemühen sehen und uns mit seiner Gnade und der Kraft seines Geistes zur Seite stehen. Denn bevor wir ihn suchen, hat er uns längst gefunden.
Seien Sie so von Gott gesegnet und behütet! Ihr P. Guido