Die Geburt Jesu ganz am Rande
Predigt zu Weihnachten 2022
Wissen sie, was ein Wimmelbild ist? In solchen Bildern sind Dinge oder auch Menschen versteckt. Man muss suchen, wenn man sie finden will. Pieter Bruegel der Jüngere, er lebte von 1564 - 1638, war wie sein Vater ein Meister solcher Suchbilder. Eines seiner berühmtesten Bilder ist seine „Anbetung der Könige im Schnee“, das er um 1600 gemalt hat. Ich will es kurz beschreiben: Da stapfen Kamele und eine Reisegesellschaft durch die Bildmitte in einem tief verschneiten flämischen Dorf. Leute drängen sich um den seltsamen Aufzug. Lasten werden über den Dorfplatz geschleppt. Am gefrorenen Bach schöpfen zwei Männer Wasser aus einem Eisloch. Reisig wird geschnitten. Unter einem Zeltdach wird gekocht. Ein Kind rutscht mit einem Schlitten übers Eis. Am rechten Rand des Bildes sieht man ein Gebäude im Bau – oder ist es eine Ruine? – es sieht aus wie eine Kirche. Man kann sich in dem Vielerlei verlieren, bis man – eher zufällig, oder weil man wirkliche gesucht hat – ganz links draußen am Bildrand die Heilige Familie entdeckt.
Mich fasziniert die Botschaft dieses Bildes: Die Menschwerdung Gottes, der Kernpunkt unseres Glaubens, wird an den Rand gedrängt. Sie geschieht mitten im Alltag, unauffällig. Heute, an Weihnachten, haben wir das Christkind natürlich in den Mittelpunkt gerückt. Aber was wir heute hervorgehoben feiern, geschah am Rand: am Rand der Welt, am Rand der großen und der kleinen Politik, am Rand eines Dorfes, am Rand der Gemeinschaft des „auserwählten“ Volkes Israel. Dazu gehört auch, dass die Kindheitsgeschichten Jesu im Lukas- und Matthäusevangelium erst weit nach den Passions- und Osterberichten aufgeschrieben wurden. Weihnachten als besondere Botschaft macht keine Schlagzeilen - damals nicht und heute nicht. Höchstens bei denen, die sich Sorgen machen um ihre Geschäfte. Selbst viele Christen haben den Bezug zu diesem so wichtigen Fest des christlichen Glaubens verloren. Die Gottesdienste an Weihnachten werden immer leerer. Es gibt zwar Bescherung und Geschenke und es wird nach alter Gewohnheit gut gegessen. Aber der innere Sinn all dieser Bräuche schwindet. Und doch ist Weihnachten etwas ganz Besonderes; es ist und bleibt das entscheidende Geheimnis des Glaubens. Das Wichtige springt nicht direkt ins Auge. Um es zu sehen, muss man suchen. Denn Gott kommt als echter Mensch, zu menschlichen Nachbarn, in unseren Alltag.
Dass Weihnachten sich am Rande ereignete, kann uns ermutigen, auf den Rand und auf die am Rand zu achten. Das, was sich mächtig in die Mitte drängt, worauf alle Scheinwerfer gerichtet sind, muss uns nicht verwirren. Es klingt wohlfeil, wenn ich hier aus der Mitte des Weihnachtsgeheimnisses darauf hinweise, dass das entscheidende Wort nicht Geschäft heißt, nicht Krieg, nicht Krankheit, nicht Sterben oder Tod, sondern Leben. Es tröstet zu wissen, dass auch das erste Weihnachten gerade deshalb am Rande geschah. Sein Kern ist da und ist nicht wegzudiskutieren – wenn auch ganz am Rand des Bildes! Weil der Mensch die wirkliche Mitte, also Gott und die Beziehung zu ihm verloren und dafür sein eigenes Ich, das Vielerlei und Drumherum in den Focus gerückt hat, geht Gott dorthin, wo wahre Menschlichkeit gebraucht wird: An den Rand. Dort ist er am ehesten zu finden. Das Wesentliche, das, was wirklich Leben gibt, und Zukunft schenkt, kommt auch in unserem Leben meist klein daher, ist irgendwo am Rand zu finden und erfordert liebevolles Suchen und geduldige Zuwendung. Aber es geschieht und ist da! Das Vielerlei, das Bruegels Bild beherrscht, sei es alltäglich oder sensationell, das Vielerlei, das sich in unserem Alltag breit machen will, muss uns also nicht lähmen. Weihnachten lockt uns, unserer eigenen Lebenslandschaft neues, ja, göttliches Leben zuzutrauen. Übrigens: Selbst die Kirche ist auf dem Bild nicht mehr als eine Baustelle. Was sagt es aus, dass die menschenleere Baustelle der Kirche dem weihnachtlichen Stall gegenüber dargestellt ist?
Nicht einmal Maria und Josef war klar, was da genau geschah. Aber sie waren aufmerksam, bereit, nahmen in seltsamen Umständen ihr Kind - und mit ihm Christus - an. Und sie glaubten den Hirten. Die wollten nicht aufhören, von himmlischem Licht und von Engelsbotschaften zu reden. Man würde ihnen am liebsten sagen, sie sollten es für sich behalten... aber sie sind ja gekommen, um zu suchen und zu finden. Und jetzt quillt ihre Freude über. Maria und Josef freuen sich darüber, hören zu, nehmen diese ersten Zeugen ernst und von Maria heißt es ausdrücklich, dass sie all diese Worte im Herzen bewahrte und darüber nachdachte. Das ist es: Suchen, Wahrnehmen und Nachdenken!
Wenn Sie zu Hause sind, wo der geschmückte Tannenbaum steht, wo Sie vielleicht in ein übervolles Bruegel-Bild eintreten, dann, ja dann gehen Sie zumindest für ein paar Minuten an den Rand, vielleicht zur Krippe oder zu einer Kerze, in die Stille. Lauschen Sie der Nähe Gottes nach, staunen Sie über sein Kommen als hilfloses kleines Kind und denken Sie einmal darüber nach, was das heute bedeutet, in einer Welt und Zeit, die wegen Hass und Dummheit und Ignoranz am Rande des Abgrunds steht. Heute, wo auch die Kirche als Institution und Gemeinschaft des Glaubens eine große Baustelle ist. Ja, lauschen wir der Liebe Gottes nach. Und begreifen wir, dass er diese Welt und diese Menschheit so sehr liebt, dass er an den Rand geht, um den Menschen und seine Welt aus Liebe aufzufangen. Da kann man nur staunen…
Dann werden wir eine Ahnung echter Weihnachtsfreude erleben.
Die wünsche ich Ihnen! Seien Sie gesegnet und behütet! Ihr P. Guido
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