4. Sonntag der Osterzeit – 1 Joh 3,1-2 und Joh 10,11-18
„Ich bin der gute Hirt“ – so sagt Jesus. Sofort hören wir Psalm 23 mit - „Der Herr ist mein Hirt, nichts wird mir fehlen...“ (vgl. Ps 23). Das ist eines der beliebtesten Gebete bei vielen, selbst bei Menschen, die mit Beten sonst wenig zu tun haben. Der „Gute Hirt“... Es scheint ein romantisches Bild, das da vor unserem inneren Auge entsteht: ein Mann, auf seinen Stock gestützt, umgeben von seinen Schafen, versonnen und weise in die Ferne blickend. Können wir damit etwas anfangen? Und: Wollen wir das sein, sind wir damit gemeint – Schafe, Herdentiere, die dahin gehen, wohin der Hüter, der Hirte vorangeht? Und wer ist der Hirte?
Dabei ist das Bild vom „Guten Hirten“ uns fremd geworden in einer Zeit, da Individualität und vor allem persönliche Freiheit und Selbstbestimmung zählen. Leitung und Weisung anzunehmen, fällt schwer. Das Bild ist ja auch über 2000 Jahre alt, könnten wir einwenden. Der Prophet Ezechiel beispielsweise wählt dieses Bild, um zu seiner Zeit – er wirkte im 6.Jhdt. v.Chr. – die Verheißung der Rückkehr des im Exil lebenden Gottesvolkes zu beschreiben: Das von Feinden und von den eigenen egoistischen Führern zerstreute, aufgeriebene und heimatlose Gottesvolk wird wieder zusammengeführt, die Verlorenen, Verwundeten und Verirrten werden gesucht und behütet, sogar die Fetten und jene, denen es gutgeht, sollen Gottes Nähe erfahren. Gott selbst will der Hirte seines Volkes sein, so sagt Gott durch den Mund des Propheten (vgl. Ez 33 u. 34). Menschen, die Orientierung suchen oder keine Perspektive haben, die gab es immer wieder und so auch zur Zeit Jesu unter den Wirren der Besatzung Israels durch Rom und unter der damaligen Obrigkeit.
Ist das in unserer Lebenswelt so anders? Ich meine nicht nur die Bedrängnisse der derzeitigen Corona-Pandemie, die uns ängstlich fragen lassen, wie die Zukunft unserer Gesellschaft und unserer Welt nach „Corona“ aussehen wird. Auch heute gibt es viele Streitigkeiten über Richtungen und Werte des gesellschaftlichen wie auch des religiösen Lebens. Und da ist die Frage: Wie geht das Streben nach persönlicher Freiheit und die Suche nach Orientierung und Wegweisung zusammen. Wir wissen: Immer besteht die Gefahr, dass man dann da, ohne es zu merken, manipuliert und beeinflusst wird. Wie oft erleben wir es: Ängste und Vorurteile, ein ganzer Cocktail von Halbwissen und Gefühlen wird angerührt, und dann laufen Tausende irgendwelchen Schreiern und Großmäulern hinterher...
Wer gibt da integer und vertrauenswürdig Hilfe? Schauen wir auf das Evangelium. Die Bildrede Jesu vom „Guten Hirten“ beschreibt zweierlei Wahrnehmung der Hirtentätigkeit und trifft damit den entscheidenden Punkt: Da gibt es die bezahlten Knechte, die sich davon machen, wenn es schwierig, mühselig oder gefährlich wird. Ihnen geht es ja nur um ihren Lohn, um Gewinn, materiell oder ideell, also auch um Einfluss und Macht. Wir kennen das aus unserer Erfahrungswelt. Im Gegensatz dazu sagt Jesus: „Ich bin der gute Hirt“. Er nimmt so die prophetische Tradition des Volkes Israel, wie sie im Gotteswort des Ezechiel deutlich wird, auf und bezieht dieses Wort Gottes auf sich und die Gegenwart seiner Tage. Damit erfüllt Jesus dieses Prophetenwort und übt gleichzeitig eine harte Kritik an denen, die nicht in Gottes Sinn als Hirten wirken.
Jesus ist der „Gute Hirt“, weil er sich anders verhält als sie: Gut eben, integer und vertrauenswürdig, das heißt, er setzt sein Leben ein für die ihm Anvertrauten, weil ihm – wie Gott selbst – an ihnen liegt. Er schränkt nicht ihre Freiheit ein. Sie haben vielmehr ein offenes Ohr für Jesu befreiendes Wort und ein offenes Herz für sein Geschenk der Liebe. Im Bild gesprochen: sie sind wie Schafe, die die Stimme ihres Hirten kennen. So entsteht eine tiefe Beziehung, die der Evangelist in die Worte fasst: „Ich kenne die Meinen, und die Meinen kennen mich, wie mich der Vater kennt und ich den Vater kenne; und ich gebe mein Leben hin für die Schafe“ (Joh 10,14-15). Mehr noch: Jesu lädt zu dieser tiefen Beziehung ein!
Jesus öffnet für all jene, die sein Wort hören, seine eigene innige Verbundenheit mit dem himmlischen Vater und nimmt sie mit hinein in diese Verbindung. Dieses „Kennen“ ist nicht oberflächlich. Es will ein von gegenseitiger Liebe getragenes „Umeinander-Wissen“ sein; es geht um einen vollen Lebensaustausch. Weil Jesus in einer alles umfangenden Lebens- und Liebesgemeinschaft mit dem Vater steht, will er uns in sie hineinnehmen. Woraus er selbst lebt, will er mit uns teilen. Er nimmt und er gibt die Fülle des Lebens (vgl. Joh 10,17). Er kennt uns mit dem Blick seiner Liebe. Er kennt, was uns freut und bedrängt, unser Gelingen und unser Versagen, unser Bemühen und unser Leiden; er kennt unsere Liebe, und unfassbar groß ist seine Zuwendung, denn es geht ihm wirklich um alle Menschen: Sein Auftrag richtet sich auch auf die „anderen Schafe“ (vgl. Joh 10,16). In Jesus wird greifbar und wirklich, was es bedeutet, dass Gott selbst der Hirte für die Seinen sein will. Und daher stellt sich für mich durchaus die Frage: Welchen Hirten folgen wir im Hier und Jetzt unseres Lebens? Wie vertrauenswürdig sind jene, die sich uns als Wegweiser, als Helfer anbieten?
Wer sich auf die Lebensgemeinschaft – und ich meine das wörtlich und tatsächlich – mit dem guten Hirten Jesus einlässt, der erfährt, dass er jeden Einzelnen kennt und liebt, so wie er all die Fragenden, die Kranken, die Niedergeschlagenen und Verlorenen kannte und liebte, die sich an ihn wandten. In seinem eigenen Leben zeigt er uns einen neuen Weg, mit all dem Verwirrenden in unserer Welt umzugehen: nicht mit Druck, nicht mir Angst, sondern mit Sanftheit und Güte und Liebe für unsere Mitmenschen, für die ganze Schöpfung, für die Welt. Er kann das, weil er sich selbst getragen und gehalten weiß in der Liebe des Vaters. In seiner Hirtensorge, die uns zeigt, dass er uns liebt, leben wir neu auf, denn in ihm ist Gott selbst der „Gute Hirt“. Amen
Bleibt in der Liebe des Guten Hirten Jesus behütet und gesegnet! Euer P. Guido