Predigt zum Fest Kreuzerhöhung – Num 21,4-9; Phil 2,6-11 u. Joh 3,13-17
Es ist eine kleine Weisheitsgeschichte, die mich schon lange begleitet. Irgendwo habe ich sie gelesen und im Laufe der Zeit Gedanken dazu gesammelt und aufgeschrieben.
Hier der erste Teil dieser Geschichte:
Es war einmal ein Mann, den ängstigte der Anblick seines eigenen Schattens so sehr, dass er beschloss, ihn hinter sich zu lassen. Er sagte sich: Ich laufe ihm einfach davon. So stand er auf und lief davon. Aber sein Schatten folgte ihm mühelos. Da sagte er zu sich: Ich muss schneller laufen. Also lief er schneller und schneller. Er lief so lange, bis er tot zu Boden sank.
Es war einmal ein Mann, eine Frau: Sie und ich. Wer von uns kennt nicht seinen eigenen Schatten? Wer von uns hat nicht den Wunsch, diesem Schatten zu entkommen? Denn wo Schatten ist, da herrscht Dunkelheit. Wir leben lieber im Licht, und wenn es nur das helle Rampenlicht unserer Zeit ist. Hell muss es in unserem Leben sein. Hell wird es, so meinen wir, wenn uns die andern bewundern und umwerben. Dabei wissen wir genau: Wo Licht ist, da ist auch Schatten.
Schatten werfe ich, sobald ich mich und mein Leben nicht annehme, nicht akzeptiere, wie ich bin. Das betrifft das Äußere und ebenso die innere Haltung und Verfasstheit. Meine Nase passt mir nicht, die Lippen, der Mund, ich bin zu klein, um richtig auftreten zu können. Noch einmal jünger sein. Das Alter wirft Schatten. Manche versuchen, wie der Mann in der Erzählung, ihrem Schatten davonzulaufen. Sie lassen sich verjüngen oder mit Hilfe einer Schönheitsoperation die Nase richten. Frischzellen sollen ihnen die Kraft der Jugend zurückgeben. Aber dem Schatten kann niemand entkommen. Ein Teufelskreis! Da muss man immer mehr, immer stärkere und immer bessere Mittel ausprobieren, damit man vielleicht irgendwann mit sich ins reine kommen kann. So meint man.
Schatten wirft auch all das, woran und worin ich in meinem Leben schuldig geworden bin. Freundschaften, Beziehungen sind durch meine Schuld zerbrochen. Der Zusammenhalt in der Familie ist gestört, weil wir unter den Geschwistern nicht miteinander auskommen. Auch diesem Schatten will man entfliehen. Und wenn man einfach so wegläuft: Wenn eine alte Freundschaft zerbrochen ist, muss, so meint man, halt eine neue aufbauen. Wenn die Partnerin es mit einem nicht ausgehalten hat, kann man sich ja eine neue aussuchen. Was man an Glück in den alltäglichen Beziehungen nicht finden kann, lässt sich vielleicht bei einem Urlaub wo auch immer entdecken. Es ist ein ewiger Dauerlauf. Aber den Schatten wird man nicht los. Wir laufen und laufen, wie ein Hamster in seinem Rad, und entkommen unserem Schatten doch nicht. Gleichgültig, was man unternimmt, um diese Schatten endlich loszuwerden, sobald man einmal innehält, um durchzuatmen, längst hat man wieder einen Schatten geworfen.
Es ist wahr, manchmal ist der Schatten, den unser Leben wirft, zum Davonlaufen: der Schatten unserer körperlichen Gebrechen, der Schatten unserer Schuld und der Schatten unserer Beziehungslosigkeit. All dem kann man nicht entkommen. Man müsste das Leben wegwerfen, um diesen Schatten zu entkommen. Tot wirft man keine Schatten mehr. Obwohl der Mann aus unserer Geschichte diese Konsequenz nicht durchschaut, scheint er dazu bereit zu sein. Er läuft so lange, bis er tot umfällt. Erst der Tod befreit ihn von seinem Schatten.
Die kleine Geschichte war noch nicht zu Ende.
Sie bietet dem „Davonläufer“ eine andere Lösung an. Sie erzählt nämlich weiter: Da war ein Weiser, der lehrte, der Mann müsse nur in den Schatten eines Baumes treten, dann wäre er seinen eigenen Schatten los. Aber, so heißt es in der Geschichte, genau darauf kam der Mann nicht.
Es stimmt: Das ist eine einfache Lösung. Wir meinen, wir müssten ein Leben lang laufen, um unseren Schatten zu entfliehen. Dabei setzt unser Glaube und gerade das Fest Kreuzerhöhung die Pointe der Geschichte um. In unserer Mitte, in der Mitte der christlichen Gemeinde ist ein Baum aufgerichtet. Es ist ein großartiger und mächtiger Baum, der einen riesigen Schatten wirft. In ihm sind alle unsere Schatten aufgehoben. Es ist der Baum des Kreuzes. In der Karfreitagsliturgie heißt es: „ecce lignum crucis“- „seht das Holz des Kreuzes“. An dieses Holz, an diesen Baum trug Jesus alle unsere Schatten und Dunkelheiten. Jesus Christus scheute sich nicht, sich daran festnageln zu lassen. Das Holz dieses Baumes ist so mit Gott verwachsen, es ist mit dem Blut Christi getränkt. Gott selbst wirft mit diesem Baum den einmaligen Schatten der Liebe und Befreiung. Wer könnte Größeres tun, um uns Menschen von unseren Schatten zu erlösen?
Seien wir dankbar heute und immer mit unserem Schatten in den Schatten des Kreuzbaumes treten zu dürfen. In seinem Schatten sind wir unsere Schatten endgültig los.
In Gottes Liebe hat die Sinnlosigkeit des Weglaufens vor dem eigenen Schatten ein Ende.
Seien Sie gesegnet und behütet!
Ihr P. Guido