Predigt zum 5. Sonntag der Osterzeit – A – 1 Petr 2, 4-9 und Joh 14, 1-12
Das kennen wir: Man schaut in das schier endlose Dunkel eines Schachtes, einer Höhle oder auch eines Tunnels. Plötzlich sind da urtümliche Erinnerungen an dunkle Räume, an die ins Dunkel führende Kellertreppe… Angst. Die unfassbare Finsternis kann das Empfinden von Angst erzeugen und verstärken. Der Schweizer Dichter Friedrich Dürrenmatt(+1990) erzählt in einer Art Gleichnis (Dürrenmatt, „Der Tunnel“ in: „Geschichten zum Weiterdenken“, München / Mainz 1979), von einem Studenten, der sich in den Zug setzt, um wie gewohnt in seine Universitätsstadt zu fahren. Doch diesmal scheint der Tunnel, den der Zug durchfahren muss, seltsamerweise kein Ende zu nehmen. Die übrigen Passagiere sind ahnungslos, wenigstens tun sie so. Der Student begibt sich beunruhigt nach vorn zum Zugführer, der ihn beschwichtigt: „Wir bewegen uns auf Schienen, der Tunnel muss also irgendwohin führen.“ Die Situation ändert sich schlagartig, als die beiden feststellen, dass der Zug, mit steigender Geschwindigkeit („Sternengeschwindigkeit“) immer tiefer ins Dunkel, ins Erdinnere rast. Der Lokomotivführer ist längst abgesprungen, weil ihm ein Rettungsversuch von allem Anfang an hoffnungslos erschien. Verzweifelt wendet sich der Zugführer an den Studenten: „Was sollen wir tun?“ Worauf der antwortet: „Nichts. Gott ließ uns fallen, und so stürzen wir denn auf ihn zu.“
Literarisch wird hier versucht, Angst und Hoffnungslosigkeit zu bewältigen. Die Empfindung von Angst ist eine der Grundempfindungen des Menschen. Es ist wohl so: Wir alle haben Angst oder kennen sie zumindest. Jeder und jede anders. Das Wort Angst kommt aus dem Lateinischen „angustia“ und bedeutet „Enge, Beengung, Bedrängnis“. Angst verspürt man also, wo es eng wird, wo Weite fehlt, dort, wo Begrenzungen einengen. Das Gefühl der Angst ist zweideutig. Zum einen stärkt positiv diese Empfindung die Vorsicht. Andererseits wächst negativ die Unsicherheit und das Gefühl der Bedrohung.
Kinder haben Angst und fühlen sich bedroht, wenn sie spüren, von Eltern oder Erziehern nicht recht angenommen zu sein. Jugendlichen wird es unheimlich vor ihrer eigenen körperlichen Veränderung in der Pubertät, vor der Schule, vor Prüfungen. Erwachsene haben Angst um ihre Kinder, vor der Konkurrenz im Beruf, Angst um ihre Gesundheit. Da gibt es Ängste vor Konflikten in der Politik und im Wirtschaftsleben. Da ist Angst vor dem Fremden. Da ist die Angst vor Gewalt, vor Krieg, vor Waffen. Die Angst vor der Klimaveränderung. Da ist die Angst zu vereinsamen. Da gibt es die plötzliche, panische Angst, dass alles in unserem Leben ins Nichts versinken und unser Dasein im Grund keinen Sinn haben könnte. Die Angst vor dem Tod.
Da ist die Angst vor allem Neuen, die Angst davor, umzudenken, weil sich das Alte vermeintlich bewährt hat. Da ist die Angst, sich selbst anzunehmen, so, wie man nun mal ist. Da ist die Angst zu versagen und die Angst, sich anderen anzuvertrauen, weil wir spüren, was das heißen mag: sich auszuliefern, sich vielleicht gar eine Blöße zu geben.
Da sind auch religiöse Ängste: Die Angst vor Fremdbestimmung des eigenen Lebens. Die Angst vor einem „Gott“, den man in strafenden und fundamentalistischen Bildern von anderen empfangen hat. Da ist die Angst vor einem „Gott“, den man nicht kennt.
Was jetzt benannt wurde, jeder und jede könnte die Aufzählung ergänzen, ist nur die Spitze des Eisberges.
Die Angst ist ein hartnäckiger Begleiter des Lebens. Angst lähmt, verstellt den Blick, macht nervös und raubt die Hoffnung. Wer oder was hilft in solcher Angst?
Es sieht so aus, als wüsste der Mann aus Nazareth eine Antwort. Jesus sagt: „Euer Herz lasse sich nicht verwirren! Euer Herz sei ohne Angst!“ (vgl. Joh 14,1). Aber ist das mehr als eine gut gemeinte Verharmlosung? Jesu Wort ist nicht einfach so dahingesagt. Es hat ein Fundament: „Glaubt an Gott und glaubt an mich!“ Darin und darin allein wird deutlich, was trägt und gegen die Angst und ihre verwirrenden Kräfte steht. Jesu Ermunterung ist keine Verharmlosung. Denn er selbst ist ja am Ölberg von der Angst eingeholt und besetzt worden. So erzählen es die Evangelisten (vgl. Mt 26,30-36; Mk 14,26.32-42 und Lk 22,39-46). Im Johannes-Evangelium deutet das genannte Wort Jesu im Rahmen der Abschiedsrede am Vorabend seines Todes auf den IHN selbst tragenden und alles fügenden Grund der Welt, auf den lebendigen Gott, den einzigen und souveränen Herrn auch aller dunklen und bedrohlichen Mächte.
Jesus verweist uns aus seinem „Verbunden Sein“ mit dem Vater auf seinen Gott, der Gewinn und Verlust, Bestehen und Versagen, Freude und Angst zu seinem und damit zu unserem Heil zu fügen vermag. Vor diesem Gott brauchen wir uns nicht zu ängstigen. Noch in tiefster Verlassenheit hat Jesus diesem Gott vertraut, alle Angst bis in den Tod durchlitten und ist gerettet worden. So ist er für uns immer und gerade in der Situation der Angst „der Weg, die Wahrheit und das Leben“ (Joh 14,6).
Die Empfindung von Angst ist Teil unseres Menschseins. Jesus nimmt sie als Teil seines eigenen Menschseins an. Das aber ebnet uns als Menschen den Weg, weil wir mit dem Blick auf seine Annahme der Angst es ebenso tun können und wahrhaftig leben. Wer wie er handelt und lebt, den hält und trägt der Vater. „Wer Glauben hat“, sagt der Hl. Papst Johannes XXIII., „zittert nicht“.
Mit und in Jesus führt Gott uns aus der Knechtschaft unserer Ängste heraus, und wir werden erkennen: Bei Gott ist Geborgenheit, bei Gott „gibt es viele Wohnungen“ (Joh 14,2).
Wie hieß es doch vorhin - literarisch verfremdet - bei Dürrenmatt? „Gott ließ uns fallen, und so stürzen wir denn auf ihn zu.“ Sagen wir es voll Vertrauen lieber so: Gott hat unsere Namen – wie es beim Propheten Jesaja heißt (vgl. Jes 49,14-16) – in seine Hand geschrieben. Jetzt können wir gar nicht tiefer fallen als in seine guten Hände.
Seien Sie vom guten Gott gesegnet und behütet! Ihr P. Guido