Das Internet als Lückenbüßer
5. Fastensonntag (B) Jer 31,31-34 und Joh 12,20-33
Erinnern Sie sich an die Zeit vor einem Jahr? Natürlich! Werden Sie sagen. Letztes Jahr um diese Zeit begann der strenge „Lockdown“. Öffentliche Gottesdienste waren nicht mehr möglich. Vieles andere auch. Es kam einem vor wie beim Monopoly-Spiel. Schlechte Karte gezogen und dann: Gehe direkt ins Gefängnis! Ziehe nicht über Los! Ziehe kein Geld ein!... Die Karwoche, dann Ostern bis in den Mai, da war sozusagen die Bühne leer. Wenn etwas geschah, dann geschah es „Backstage“, also hinter der Bühne, sprich: nicht öffentlich. Wir haben als Priester in leeren Kirchen Gottesdienste gefeiert, am Palmsonntag Zweige gesegnet, in der Osternacht die Osterkerze, das Osterwasser und das alles unter „Corona-Bedingungen“. Wochentags- und Sonntagsmessen, nein, öffentlich konnten sie nicht gefeiert werden. Die Erstkommunionfeiern, Taufen, viele Hochzeiten, all das wurde verschoben. Übrigens: Manche Mitchristen definieren ja ihr Christsein hauptsächlich von der Feier der Gottesdienste her. Die waren weg! Von der Sonntagspflicht wurde durch die Bischöfe dispensiert. Man stellte fest: Es geht auch ohne. Auch wenn seit Mai letzten Jahres unter strengen Auflagen und Hygienekonzepten eine gewisse Öffentlichkeit der Gottesdienste wieder hergestellt ist, auch wenn mit viel Kreativität durch die Medien, besonders durch das Internet eine indirekte Feier der Gottesdienste wieder möglich war und bis heute ist, so werde ich den Eindruck der „Backstage“-Situation nicht los. So ist das bis heute. Und es wird sicher bis zum Ende der Pandemie auch weiter so sein. Die Frage bewegt mich: Was macht das mit mir, mit uns, mit den Gottesdiensten, mit dem Gemeindeleben in Zukunft?
Gottesfürchtige Griechen – vermutlich aus Kleinasien – kommen zum jüdischen Paschafest nach Jerusalem. So erzählt es das Johannesevangelium (vgl. Joh 12, 20f). Der Weg Jesu strebt seinem dramatischen Ende zu. Noch ist die große Bühne der Passion leer. Die Gegner Jesu hatten gemerkt, dass ihre offenen und verdeckten Angriffe auf Jesus, doch nicht so erfolgreich waren, wie sie es sich erhofft hatten (vgl. Joh 12,17-19). Die Menschen fragten sich, ob Jesus wohl zum Fest nach Jerusalem komme. Die Gegner Jesu hatten ihre Spitzel ausgesandt. Dass die frommen Griechen zum Tempel kamen, das ist nichts Außergewöhnliches. Auch ihr Wunsch, den sie an Philippus herantragen: „Herr, wir möchten Jesus sehen“ (Joh 12,21b) ist es nicht. Die etwas umständlich geschilderte Aktion zur Vermittlung einer Audienz, von der wir noch nicht einmal erfahren, ob sie denn zustande kommt, macht neugierig. Da heißt es, dass Jesus dem Philippus und dem Andreas antwortet. Aber der Text gibt gar keine Antwort auf die Frage, ob die frommen Leute ihn sehen könnten. Was das Evangelium überliefert, ist eine Belehrung der Jünger. „Wir möchten Jesus sehen.“ – „Backstage“, also hinter der Bühne, im normalen Leben. Der Wunsch „Wir möchten Jesus sehen“ ist folgerichtig an jene gerichtet, die die Geschichte Jesu kennen, an die gläubigen Hörer und Leser des Evangeliums. Sie, die Jünger, das heißt wir, sind gebeten zu Jesus zu gehen, um Wege und Weisen zu finden, ihn und seine Botschaft, also die Sache Gottes, für die er steht und eintritt, sichtbar und greifbar zu machen. Was auf der Bühne geschieht, ist eines. Vergleichbar der Liturgie, der öffentlichen Feier der Gottesdienste, der Worte in feierlicher Sprache. Das andere ist, dass, wie damals jene Griechen auch unsere Mitmenschen danach verlangen, heute dem lebendigen Christus zu begegnen, „Backstage“ hinter der Bühne, also im normalen Leben. Sie wollen ihn mit eigenen Augen sehen, mit Händen greifen. Was heißt das anderes als: Wir sollen heute für sie und füreinander der lebendige Christus sein, zumindest soll er durch unser Leben hindurchscheinen, wie die Strahlen der Sonne durch ein Kirchenfenster – so hat es Kardinal Kurt Koch einmal formuliert. Das scheint mir eine der großen Lehren aus der Erfahrung der leeren Kirchen und der beschränkt möglichen Gottesdienste in der Pandemie. Also, wie sieht das Christenleben aus, wenn es sich nicht nur auf den sonntäglichen Gottesdienst beschränkt? Gehen wir selbst zu Christus, hören wir hin auf das, was er sagt. Hören wir auf sein Wort. Wir müssen zu verstehen suchen, was er meint, wenn er da sagt: „Die Stunde ist gekommen, dass der Menschensohn verherrlicht wird“ (Joh 12, 23). Die „Stunde“, seine Stunde, von der es im ganzen Johannesevangelium bis hierher geheißen hat, sie „sei noch nicht gekommen“ (vgl. Joh 2,4; 7,30; 8,20). Jetzt ist sie da mit Blick auf den bevorstehenden Kreuzestod, aber nicht als Erniedrigung und Vernichtung, sondern als Erhöhung. Das Bild vom Weizenkorn wird greifbar: Durch den Tod hindurch wird das Leben. Das ist kein Prinzip von „Stirb und Werde“, vielmehr wirft Jesus sich durch den Tod hinein in das Leben Gottes und unfassbar verströmt sich dieses göttliche Leben hinein in das Leben der Glaubenden. „Wo ich bin, dort wird auch mein Diener sein. Wenn einer mir dient, wird der Vater ihn ehren“ (Joh 12,26b). Und noch ein Hinweis: Unser heutiges Evangelium wird gerne mit der Ölbergszene verglichen, von der die drei anderen Evangelien erzählen. Heißt es dort: „Es ergriff ihn Furcht und Angst, und er sagte…: Meine Seele ist betrübt bis in den Tod“ (vgl. Mk 14,33f par.), so sagt er bei Johannes: „Jetzt ist meine Seele erschüttert“ (Joh 12,27). Es ist jene Erschütterung, die ihn beim Tod seines Freundes Lazarus ergreift (vgl. Joh 11,18-28), die Erschütterung über die vernichtende und entmenschlichende Macht des Todes. Er sieht sich ihr jetzt auch ausgesetzt, damit er sie besiege. Und so sagt er zum Vater: „Deshalb bin ich in diese Stunde gekommen. Vater, verherrliche deinen Namen“ (Joh 12,28). Dass Jesus sich seiner Herausforderung voller Vertrauen stellt und allein auf Gott setzt, ist wie ein Donnerschlag und hat zur Konsequenz, dass der Herrscher dieser Welt hinausgeworfen wird. Ja, wenn der am Kreuz und zugleich zum Vater Erhöhte „alle zu sich zieht“, dann hat der Herrscher Tod keine Chance mehr, er hat seine Macht verloren und der Name Gottes ist verherrlicht und in ihm der Menschensohn.
„Wir möchten Jesus sehen.“ – Diese Bitte der suchenden Griechen ist die Bitte, suchender Menschen, Menschen, die oft bewusst oder auch unbewusst die Sehnsucht nach Annahme und die Frage nach Sinn in ihrem Leben quält. Jesus will in seiner Liebe eine Antwort auf ihr Suchen sein. Er will, dass wir ihnen durch unser Leben und unsere Liebe diese Antwort anbieten, nicht mit großen Worten und feierlichem Gehabe, sondern „Backstage“ also im normalen Leben mit unserem ganzen Sein und im Namen eines Gottes, der voller Erbarmen ist.
Denken Sie deshalb auch an die MISEREOR-Kollekte am heutigen Sonntag.
Seien Sie gesegnet und behütet in der Liebe Gottes! Ihr P. Guido