Blinde sehen den Weg nicht, der vor ihnen liegt...
Predigt zum 30. Sonntag im Jahreskreis (B) – Jer 31,7-9 und Mk 10,46b-52
Sonntag der Weltmission ist dieser 30. Sonntag im Jahreskreis in diesem Jahr. Wir sind aufgerufen, uns darüber klar zu werden, worin der Orientierungswert unseres Glaubens, unserer Nachfolge Jesu, für uns selbst, aber auch für alle Menschen besteht. Denn der Herr hat uns allen seinen Auftrag weitergegeben, der da heißt: „Macht alle Menschen zu meinen Jüngern! Führt sie zum Vater, wie ich euch zu ihm geführt habe!“ (vgl. Mk 16,15-20). Es geht also darum, für sich selbst und für alle mit dem Herrn den Weg zu finden und zu gehen.
Das Evangelium heute schließt mit den Worten: „Und er folgte Jesus auf seinem Weg nach“. Begonnen hat es so: An der Straße saß ein blinder Bettler. Blinde sehen den Weg nicht, der vor ihnen liegt, und können ihn deshalb nicht gehen. Sie laufen Gefahr, sich zu stoßen oder gar zu fallen. Sicher sind sie nur im Sitzen. Vor diesem Hintergrund bekommt der letzte Satz sein ganzes Gewicht: „Und er folgte Jesus auf seinem Weg nach“. Seine Bitte, „Rabbuni, ich möchte wieder sehen können“, ist erhört und die Augen sind ihm geöffnet worden, damit er seinen Weg wieder sehen und gehen kann. Auf seine Bitte sagt Jesus nicht: „Sieh!“, sondern: „Geh!“ Der Blinde hat nur sitzen können, der Sehende kann jetzt gehen.
Das wunderbare Geschehen besteht nicht nur darin, dass Bartimäus seinen Weg wieder sehen und gehen kann. Ihm wird noch ein anderes Sehen geschenkt. Er sieht den Weg, den Jesus geht, als den Weg, der sich ihm ins Leben hinein auftut. Jesu Weg wird zu seinem Weg. „Geh! Dein Glaube hat dich gerettet. Und im gleichen Augenblick konnte er sehen und folgte Jesus auf seinem Weg nach“ (Mk 10,52). Bartimäus sieht Jesus mit den Augen des Glaubens. Und überall, wo Menschen Jesus glauben, sehen sie den Weg Jesu als ihren Weg, auf dem sie zu Gott gelangen und zueinander finden. Die Augen des Glaubens ermöglichen es, den Weg zum Leben zu sehen und ihn zu gehen. Die Aufforderung Jesu an den Blinden Geh! heißt deshalb so viel wie Lebe! - Und er folgt Jesus auf seinem Weg nach.
Die Heilung des blinden Bartimäus ist die letzte Heilungserzählung, die das Markusevangelium bietet. Sie steht unmittelbar vor der Leidensgeschichte Jesu, die durch den Einzug in Jerusalem eingeleitet wird. Damit soll uns gesagt sein, dass Nachfolge Jesu, unser Mitgehen auf seinem Weg, das Mitleiden und Mitsterben mit ihm einschließt. Ein Mitleiden und Mitsterben, das allem Leid und jedem Tod einen neuen Sinn aus der Auferstehung schenkt, denn der Weg Jesu endet ja nicht im Tod. Und so führt der Weg mit dem Herrn zu einem neuen und erfüllten, ja ungebrochenen Leben mit Jesus.
Also muss unser je eigener Weg ein Weg sein und werden, der sich in Freude wie in Trauer, in der Hoffnung wie in der Angst, in Gesundheit und Krankheit gehen lässt. Es muss ein Weg sein, der noch im Sterben gangbar ist. Wer aber keinen Weg mehr für sich sieht, ist wie ein Blinder am Gehen und am Leben gehindert.
Gewiss ist die Nachfolge Jesu kein simples Lebensrezept in dem Sinne, dass es kein Suchen und Fragen, keinen Bedarf an Orientierung mehr gäbe. Wie also wird der Weg Jesu zu unserem Weg? Nur so, dass wir auf den Weg Jesu schauen, darauf, wie er seinen Weg gegangen ist, offen für den Willen des Vaters und zugleich offen gegenüber denen, die ihm unterwegs begegnen. – Bartimäus gesellt sich zu den anderen, die Jesus folgen und folgt mit ihnen Jesus auf seinem Weg nach.
Die Heilungsgeschichte des Bartimäus wird so für die Christen in der Gemeinde des Markus und ebenso für uns zu einer Glaubensgeschichte, eine Darstellung vertrauensvollen Glaubens und Nachfolgens. In Bartimäus begegnet uns ein Mensch, der um seine Unheilssituation weiß, der aber das Hoffen nicht verlernt hat und der nach Orientierung sucht. Und er findet sie in der gemeinsamen Nachfolge mit den Jüngern.
Das ist ein wichtiger Hinweis für uns: in der gemeinsamen Orientierung am Weg Jesu sind wir nicht allein und ohne Hilfe. Auch heute meint die Kirche Weggemeinschaft und Orientierungsgemeinschaft. Das gehört zu ihrer Kernaufgabe. Gemeinsam sehen wir vor uns den Weg Jesu als den Weg, in dem unser je eigenes Leben seine Perspektive erhält. Und aus dieser neuen Sicht, die er selbst uns vorgelebt hat, erwächst dann wie von selbst ein neues Gespür für den richtigen Weg. „Geh und lebe!“sagt Jesus jedem von uns. Ihm auf seinem Weg folgen bedeutet schließlich, ihm noch im Sterben nachzufolgen und sich in seine Hingabe an den Vater mit hineinzugeben.
„Sohn Davids, hab‘ Erbarmen mit mir!“ hat Bartimäus laut gerufen. Im Kyrie der hl. Messe haben wir seinen Ruf aufgenommen: „Herr, hab Erbarmen mit uns!“ Auch als Glaubende haben wir die Not der Orientierungssuche nie hinter uns. „Herr, hab‘ Erbarmen mit uns! Öffne uns die Augen!“
Wir sind nicht immerzu Sehende, denen ihr je eigener Weg deutlich vor Augen läge. Dann gilt, was die Menschenmenge dem Blinden schließlich zuruft, auch uns, besonders inmitten eines heute so sehr verstummenden und sich verschweigenden, ja angefochtenen Glaubens.
In dieser Weltsituation gibt uns der Zuspruch der Umstehenden den „entscheidenden Fingerzeig": „Hab nur Mut, steh auf, er ruft dich!“ Im Blick auf diejenigen, mit denen wir leben und Verantwortung tragen, sollte das auch unser Zuspruch sein; denn damit wird der Ruf Jesu nach dem Menschen überhaupt verstärkt. So haben es sich die Gläubigen von Anfang an zugesprochen: Habt nur Mut, steht auf, er ruft euch! Dann haben die Nachfolgenden sich um Jesus versammelt, damit er ihnen immer neu die Augen öffne für seinen Weg als ihren Weg. Denn der Herr zeigt uns den Weg zum Leben. Die Welt und die Menschen warten darauf, dass wir sein Werk fortsetzen. Dazu sind wir gesandt. Das ist unsere Mission.
Seien Sie gesegnet und behütet! Ihr P. Guido